angst.jpg
g71.jpg
rheinmetall-entwaffnen.jpg
räte01.jpg
siko2.jpg
pag4.jpg
previous arrow
next arrow

Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 23.2.2022 vor dem Bundestag von einer „Zeitenwende“ sprach, auf deren Hintergrund er das gewaltigste Aufrüstungspaket der deutschen Geschichte nach 1945 als gerechtfertigt darstellen wollte[1], sagte er gleich mehrfach die Unwahrheit.

Zerstörte Autobrücke bei Kiew, April 2022.
 

Bild: Zerstörte Autobrücke bei Kiew, April 2022. / Oleksandr Ratushniak (CC BY-SA 4.0 cropped)

Zum einen stellte sich nach kurzer Zeit bereits heraus, dass das 100 Milliarden-Paket zur Aufrüstung der Bundeswehr schon seit Monaten in den Schubladen der Ampelkoalition lag und nicht das Geringste mit dem Kriegsausbruch zu tun hatte[2]. Offensichtlich wollte die Bundesregierung einfach die Gunst der Stunde nutzen, ein für schwer vermittelbar gehaltenes Massnahmenpaket imperialistischer Aufrüstung nun im Moment des Schocks handstreichartig durchzusetzen.

1 – „Zeitenwende“?

Zugleich behauptete Scholz, dies sei der erste Angriffskrieg auf dem Boden Europas nach 1945 – obwohl Scholz sich gewiss noch an den Jugoslawienkrieg von 1999 erinnern konnte, als deutsche Kampfflugzeuge sich an der Bombardierung Belgrads beteiligten, an einem völkerrechtswidrigen regime-change – Angriffskrieg ohne internationales Mandat und unter zynisch erlogenen Begründungen, wie inzwischen allgemein bekannt ist („Hufeisenplan“, Instrumentalisierung von „Auschwitz“ als Kriegsbegründung).

Es gab und gibt also keine Zeitenwende, jedenfalls nicht eine, die mit dem Angriff russischer Truppen am 22. Februar 2022 auf die Ukraine zu datieren ist.

Eine Zeitenwende gab es sehr wohl, nur lag sie früher: die Phase der siegreichen Konterrevolution in den ehemals sozialistischen Staaten 1989 – 1991, an die die Phasen der NATO-Osterweiterung, der EU-Osterweiterung, der Errichtung zahlreicher US- und NATO-Truppenstützpunkte rund um das Territorium der Russischen Föderation anschlossen, die sich ihrerseits in den Jahrzehnten nach dem Ende der UdSSR vom Sozialismus in einen kapitalistischen Staat in seiner imperialistischen Entwicklungsstufe erst zurück und dann „voran“ entwickelte.

Zu den Ergebnissen in diesem Kontext gehören auch die Ereignisse im Winter 2013/14 in der Ukraine, ohne die der jetzige Krieg unverständlich wäre. Es gehörte und gehört zu den umstrittenen Fragen innerhalb der gesellschaftlichen Linken, wie sie zu bewerten sind. 2014 gab es in der deutschen Linken eine klare Mehrheit dafür, sich mit dem als prowestlich, proeuropäisch und irgendwie „emanzipatorisch“ wahrgenommenen „Aufstand“ zu identifizieren. Stimmen, die das anders sahen und die „Maidan-Ereignisse“ als reaktionären, neoliberal-faschistischen Putsch verstanden, waren in der Minderheit[3]. 2014 stellte – mindestens in der antifaschistischen Bewegung der Bundesrepublik – viel eher eine Zeitenwende dar: es war das Jahr, indem sich antifaschistische Bündnisse auflösten, den Antifaschismus aus ihren Namen entfernten und punktuell sogar mit ukrainischen Faschisten gemeinsam auf der Strasse waren, wie zB. am 4. August 2014 in Frankfurt am Main[4]. Nicht zu Unrecht ist dieses Jahr unter Bezug auf den damaligen Ukrainekonflikt deshalb als „Epochenzäsur“ bezeichnet worden[5].

Dieser Charakter als Epochenzäsur bestand darin, dass die Phase der relativ „friedlichen“ Neuaufteilung der Welt nach dem Ende des Sozialismus sich dem Ende zuneigte und in eine Phase potentiell auch militärischer Konflikte zwischen den imperialistischen Konkurrenten überzugehen begann (der Krieg zur Zerschlagung Jugoslaiens war wahrscheinlich zuminet teilweise anderer Natur).

Dieser Prozess erlebt nun einen weiteren qualitativen Sprung. In ihm sucht der deutsche Imperialismus wieder einmal seinen Ort im Spannungsfeld innerimperialistischer Konflikte: aktuell zwischen Russland, den Staaten der EU und den USA. Um hier aus einer Position relativer Stärke agieren zu können, muss aus Sicht der aktuellen Bundesregierung die bisherige Politik einer wirtschaftlichen Kooperation mit der Russischen Föderation minimiert oder beendet werden, muss Deutschland massiv aufrüsten[6] – und das vom Startpunkt des siebtgrössten Militäretats der Erde aus[7]. Nimmt man die nun in Aussicht gestellten Mittelerhöhungen (2%-Ziel des BIP nach NATO-Anforderung) und des zusätzlichen 100 Milliarden – Rüstungspakets dazu, dürfte demnächst der deutsche Wehretat den Russlands nicht nur proportional[8], sondern in absoluten Zahlen übersteigen. Kein Zweifel – der russische Imperialismus ist in der Defensive.

Zugleich werden historische Kontinuitäten des deutschen Imperialismus sichtbar, die auch für die Zukunft nahelegen, dass es nicht dabei bleibt, sich, wie es aktuell den Anschein hat, in eine gemeinsame antirussische Front mit den USA und den übrigen NATO-Staaten einzureihen – ein Prozess, der mit der relativen Niederlage des deutschen und französischen Imperialismus am Ende der Maidan-Proteste seinen Anfang nahm. Sichtbar werden die genannten deutschen Kontinuitäten im weiten Rückblick. Schon die Kriegszieldebatte ab Herbst 1914 sah im deutschen Auswärtigen Amt und dem Grossen Hauptquartier im Herausbrechen der Ukraine aus dem zaristischen Russland unter dem Slogan ihrer Unabhängigkeit einen entscheidenden strategischen Schritt. Bekannt ist aus der damaligen deutschen Diskussion Paul Rohrbachs bonmot: „Wer Kiew hat, kann Moskau zwingen“[9].

Fritz Fischer fasst die damalige Sichtweisen zusammen:

„Als Ziele der deutschen Reichspolitik bezeichnete die Reichsleitung: »Insurgierung nicht nur Polens, sondern auch der Ukraine erscheint uns sehr wichtig; 1. als Kampfmittel gegen Russland;

2. weil im Falle glücklichen Kriegsausganges die Bildung mehrerer Pufferstaaten zwischen Russland und Deutschland bzw. Österreich-Ungarn zweckmässig würde, um den Druck des russischen Kolosses auf Westeuropa zu erleichtern und Russland möglichst nach Osten zurückzudrängen“. [10]

Nicht nur die geopolitischen, sondern auch die innenpolitischen Parallelen sind offenkundig. Zu ihnen schreibt Fischer:

„Die deutsche Regierung konnte für ihre Pläne, die nichtrussischen Randvölker vom Zarenreich zu lösen, in Deutschland auf breite Zustimmung rechnen. Die Alldeutschen und die ihnen nahestehenden Gruppen traten dafür ebenso ein wie, wenn auch aus anderen Motiven, die Mittelparteien und die Gruppen der Linken, war doch der antizaristische Affekt der Sozialdemokratie ein wesentliches Moment gewesen, um ihr das Eintreten für den Krieg zu erleichtern. Der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger hatte Anfang September 1914 in seiner grossen Denkschrift, neben weitgehenden Zielen im Westen und einem Mitteleuropaprogramm, für den Osten folgendes Kriegsziel aufgestellt: ‚Befreiung der nichtrussischen Völkerschaften vom Joch des Moskowitertums und Schaffung von Selbstverwaltung im Innern der einzelnen Völkerschaften. Alles dies unter militärischer Oberhoheit Deutschlands, vielleicht auch mit Zollunion…‘

Nach Erzberger war das letzte Ziel, Russland sowohl von der Ostsee als auch vom Schwarzen Meer abzuschliessen.“ [11]

Es gibt also einerseits eine gewisse Wiederkehr alter Fronten, die historisch in die Zeit des ersten imperialistischen Weltkriegs zurückweisen. Diese Fronten verlaufen im jetzt geführten heissen Krieg zwischen den betroffenen imperialistischen Staaten und Staatenbündnissen Russland, Ukraine, NATO, EU.

Andererseits aber verlaufen sehr ähnliche Fronten wie bereits zu Beginn des 1. Weltkriegs innerhalb der Linken, wo es um die Frage ging: wie stehen wir zu diesem Krieg? Die damalige Spaltung der Linken in sozialdemokratische und kommunistische Parteien sowie eine Vielzahl von Bewegungen und Gruppierungen dazwischen beschäftigt uns heute in analoger Weise noch immer.

2 – Umstrittene Fragen der Imperialismus-Analyse

Zunächst: unter Imperialismus ist im Folgenden dessen marxistisches, nicht zuletzt auf Lenin zurückgehendes Verständnis als das höchste und letzte Stadium des Kapitalismus gemeint, nicht etwa nur eine Form bürgerlicher Politik, die sich durch besondere Gewalttätigkeit, durch Kolonialismus oder Expansionismus auszeichne. Die heutige Welt ist nach marxistischem Verständnis durch ein vielschichtiges System mehr oder weniger hoch entwickelter imperialistischer Staaten gekennzeichnet, die dementsprechend mehr oder weniger massiv anderen Staaten auf Grund ihrer Machtressourcen ihre Bedingungen des politischen, wirtschaftlichen oder auch militärischen Verhaltens aufzwingen können. Die jeweils spezifischen Machtressourcen imperialistischer Staaten resultieren aus dem Grad ihrer monopolkapitalistischen Entwicklung, sind deshalb immer auch Ausdruck des Stands der Klassenkämpfe in ihren Gesellschaften wie auch ihrer unterschiedlichen gegenseitigen Beziehungen nach aussen[12].

Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) spricht in aktualisierender Anwendung der leninschen Imperialismustheorie von der „imperialistischen Pyramide“ als Metapher der weltweiten Beziehungen imperialistischer Staaten zueinander, ein Bild, das natürlich nicht statisch, sondern höchst dynamisch vorzustellen ist: Staaten und Volkswirtschaften im Auf- und Abstieg, in erbitterter imperialistischer Konkurrenz untereinander, in zeitweiligen Bündnissen, die jederzeit zu Interessenkonflikten umschlagen können – bis hin zum Krieg gegeneinander. Die Metapher der „imperialistische Pyramide“ ist in gewisser Hinsicht der marxistische Gegenbegriff zur harmonisierenden Vorstellung von einer „multipolaren Weltordnung“, die potentiell friedensfähig wäre. Das ist sie nicht, solange es Imperialismus gibt. Krieg kann unter diesen Bedingungen nie ausgeschlossen werden, ihn trägt der Kapitalismus-Imperialismus in sich „wie die Wolke den Regen“ (Jean Jaurès).[13]

Die Pointe der Vorstellung eines dynamischen imperialistischen Weltsystems, in dessen Rahmen und Bahnen von Zwang und Gewalt sich heute alle Staaten der Erde in dynamischer Über- und Unterordnung befinden, ist ihre Fähigkeit, zu beschreiben, wie Staaten sowohl aktiv als auch passiv, sowohl den einen gegenüber als herrschende, unterdrückende, wie auch anderen gegenüber als unterdrückte, beherrschende bewegen können und müssen.[14] Von diesem Verständnis des heutigen Imperialismus auszugehen trägt der seit Lenins Imperialismus-Schrift von 1916 deutlich gewachsenen Komplexität der weltweiten ökonomischen und staatlichen Beziehungen aus meiner Sicht am besten Rechnung.

Unter Marxist:innen und Kommunist:innen ist dies aber nicht unumstritten. Dies hängt nicht zuletzt auch mit der Frage zusammen, wie die Politik Russlands nach dem Sieg der Konterrevolution von 1990ff einzuschätzen ist (seit wann und auf welchen Wegen sich diese Konterrevolution vorbereitet hat ist ebenfalls Gegenstand heftiger Diskussionen). In der Regel verstehen die Vertreter:innen der Theorie einer imperialistischen Pyramide Russland als imperialistischen Staat, der sich aufgrund der Kräfteverhältnisse im Vergleich mit mit seinen imperialistischen Konkurrenten, besonders den USA, der NATO, den EU-Staaten, seit Jahren ihnen gegenüber in der politischen und militärischen Defensive befindet, was den russischen Imperialismus andererseits keineswegs daran hindert, überall dort, wo es global möglich ist, auch als aktiver Imperialist aufzutreten. Marxist*innen, die stattdessen von der These ausgehen, Imperialismus sei ein System globaler Beziehungen, in dem von wenigen herrschenden Zentren der Welt aus deren Rest ausgebeutet und beherrscht werde, weisen die Charakterisierung Russlands als imperialistischen Staat zurück (und halten oft China für einen wie auch immer gearteten sozialistischen Staat[15]). Das ist, in grober Vereinfachung gesagt, sowohl in der weltweiten kommunistischen Diskussion so, als auch in der Diskussion in Deutschland.

In der internationalen kommunistischen Bewegung wurde der Ukraine-Krieg sehr bald nach seinem Beginn von eine grösseren Anzahl kommunistischer und revolutionärer Parteien und Jugendorganisationen als imperialistischer Krieg verstanden und verurteilt.[16] Dem schloss sich die KP der Russischen Föderation (KPRF) mit einer eigenen Erklärung vom 28.2.2022 (und noch einmal ausführlicher am 4.3.2022) ausdrücklich nicht an, weil sie zum damaligen Zeitpunkt davon ausging, dass die russische „Spezialoperation“ lediglich dem Schutz des Donbass und seiner russischen Bevölkerungsmehrheit gelte, die in der Tat seit 14 Jahren den Angriffen des Kiewer Regimes ausgesetzt ist und auch ansonsten angeblich der antifaschistischer Befreiung diene[17].

Anders wollte ein Vertreter der Kommunistische Arbeiterpartei Russlands (KAPR) zur Frage des imperialistischen Charakters Russlands nicht Position beziehen, und erklärte den Schutz der russischen Bevölkerung des Donbass seitens der Russischen Föderation für legitim, jede darüber hinausgehende Operation hingegen nicht[18]. Positionen der völlig illegalisierten und unterdrückten Kommunistischen Partei der Ukraine sind nicht greifbar, bekannt ist, dass zwei Führungskader des Komsomol der Ukraine seit Kriegsbeginn inhaftiert sind und misshandelt wurden.[19]

Es gibt international keine andere Gruppe kommunistischer Parteien, die eine alternative Gemeinsame Stellungnahme hätten beschliessen können und wollen, wie sie die erwähnte, auf Initiative der KPen Griechenlands, Mexikos, der Türkei und der Kommunistischen Arbeiterpartei Spaniens verabschiedete Gemeinsame Erklärung darstellt.

In der Bundesrepublik stellt sich die Lage im kommunistischen Spektrum so ähnlich dar. Keine in der BRD aktive kommunistische Gruppierung oder Partei gehört zu den Unterzeichnerinnen der „Gemeinsamen Erklärung“. Während die DKP bekanntlich seit vielen Jahren die Charakterisierung Russlands und Chinas als imperialistische Mächte regelmässig vermeidet[20] und das auch im Fall des Ukraine-Kriegs tut, hat die SDAJ eine abweichende Position bezogen. In einer Erklärung vom 25.2.2022 charkterisiert sie Russland rundheraus als imperialistischen Staat.[21] In der Kommunistischen Organisation (KO) spielt sich ein heftiger Meinungsstreit ab, der verdienstvollerweise offen ausgetragen wird.[22]

Es stehen sich Positionen gegenüber, die die Einstufung Russlands als imperialistischen Staat zurückweisen und die in den Programmatischen Thesen der Organisation beschlossene imperialismustheoretischen Positionen zu revidieren fordern. Dort hatte die KO bei ihrer Gründung 2018 – meines Erachtens völlig zu Recht – festgestellt: „Eine der zentralen Spaltungslinien in der kommunistischen Weltbewegung ist die Debatte um die These „objektiv antiimperialistischer“ Staaten. Nach dieser Auffassung spielten bestimmte kapitalistische Staaten eine „objektiv antiimperialistische“ und damit friedensfördernde Rolle. So wird z.B. Russland wegen seiner Interessendivergenzen mit den USA oft eine solche Rolle zugesprochen.

Diese These ist jedoch falsch. Sie beruht auf der falschen Vorstellung, der Imperialismus sei die Vorherrschaft einiger, „westlicher“ oder „nördlicher“ Staaten wie der USA, Westeuropas und Japans. Wir halten jedoch daran fest, dass der Imperialismus eine gesetzmässige Entwicklung des Kapitalismus in seinem monopolistischen Stadium ist. Es ist falsch, bestimmten, relativ unterlegenen imperialistischen Polen innerhalb dieses Systems eine prinzipielle Friedensfähigkeit oder fortschrittliche Rolle zuzuschreiben. Die fatale Konsequenz aus solchen Fehleinschätzungen ist, dass die Arbeiterklasse sich unter der Fahne fremder Interessen, nämlich des einen oder anderen imperialistischen Pols sammelt.“ [23]

Dem widersprechen Positionen in der KO, die die Theorie der „imperialistischen Pyramide“ in der Debatte um den Ukraine-Krieg zurückweisen, damit im Grunde die bisherige Entwicklung der KO insgesamt in Frage stellen und sich so, teilweise sogar ausdrücklich, Positionen wiederannähern, wie sie die DKP sie zu Russland vertritt. Aus dieser Sicht handelt es sich bei Russland um einen nicht-imperalistischen kapitalistischen Staat, dessen herrschende Klasse als „nationale Bourgeoisie“ (und nicht als Monopolbourgeoisie) bezeichnet wird. Der Ukraine-Krieg ist aus dieser Sicht ein berechtigter russischer Präventivkrieg gegen die drohende Einkreisung Russlands durch die NATO.

Dem stehen die Positionen von Genoss:innen gegenüber, die an den „Programmatischen Thesen“ festhalten, den Ukraine-Krieg als imperialistischen, beiderseits ungerechten Krieg verurteilen und sich damit auf Positionen befinden, die denen der „Gemeinsamen Erklärung“ von kommunistischen und Arbeiterparteien (s.o.) entsprechen.

Ob es in naher Zukunft eine Entscheidung zwischen beiden Positionen geben wird, oder ob die KO – wie schon in der Klimafrage[24] – sich nicht für eine von zwei einander ausschliessenden Positionen einigen kann ist derzeit nicht absehbar.

3 – Zur Charakterisierung des Ukraine-Kriegs

Wie den Ukraine-Krieg verstehen? Und was gegen ihn tun? Diese beiden Fragen hängen natürlich engstens zusammen. Es ist deswegen keineswegs praxisferne Scholastik, sich über den Charakter dieses Kriegs klar zu werden. Deshalb ist es auch nicht überflüssig, die Frage nach dem Klassencharakter der Russischen Föderation zu klären, während der Charakter der Ukraine in der Diskussioon keine Fragen aufwirft. Dass es sich bei Russland um einen imperialistischen Staat handelt, kann aus meiner Sicht kaum bestritten werden. Detailliert haben dazu in der laufenden Debatte der KO Thanassis Spanidis und Bob Oskar die wesentlichen ökonomischen, politischen und militärischen Fakten zusammengetragen[25]. In seinem zweiten zitierten Beitrag rekurriert Spanidis dabei auf die bereits seit 2007 vorliegende Analyse des Jugendverbands der RKAP, also von Marxist:innen, die die Verhältnisse Russlands zur Genüge „von innen“ kennen[26]. Diese grundsätzliche Einschätzung des russischen Staats in weiten Teilen der internationalen kommunistischen Bewegung wie auch im weiterhin an den Programmatischen Thesen orientierten Teil der KO wird, wie oben dargestellt, auch von der SDAJ geteilt.

Damit stellt sich der Ukraine-Krieg in der Tat als imperialistischer Krieg dar, als ein Krieg, in dem sich imperialistische Kräfte gegenüberstehen, vergleichbar mit der Situation zu Beginn des 1. Weltkriegs und in der Anfangsphase des 2. Weltkriegs, vor dem Angriff der Nazi-Wehrmacht auf die UdSSR [27].

Im Krieg um die Ukraine überlagern sich allerdings Auseinandersetzungen auf verschiedenen Ebenen.

Auf der entscheidenden, der Ebene der zwischenimperialistischen Widersprüche, stehen sich USA, NATO, EU inklusive Deutschland einerseits, Russland andererseits gegenüber. Diese Auseinandersetzung geht letztlich auf das Ende der sozialistischen Sowjetunion, die Rekonstruktion des Kapitalismus in der Russischen Föderation und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken zurück. Im Zug der NATO- und EU-Osterweiterung geriet die Russische Föderation dabei Schritt für Schritt in die Defensive. Sie ist es auch ökonomisch und politisch, und droht, selbst auf der Ebene der militärischen Sicherung ihres unmittelbaren imperialistischen Einflussgebiets zu geraten.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine trägt somit in seiner Tiefenstruktur den Charakter einer Auseinandersetzung zwischen einem Imperialismus in der Defensive (Russland) und einer in sich widerspruchsvollen Koalition von imperialistischen Aggressoren (USA, NATO, EU), die auch, was ihren Einfluss in der Ukraine angeht, keineswegs ein Herz und eine Seele sind[28], während an der Oberfläche betrachtet, aus dem Zusammenhang der historischen Entwicklung abstrahiert, natürlich die Russische Föderation ohne Frage einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen ihren Nachbarstaat vom Zaun gebrochen hat und ihn auch dementsprechend führt.

Auf einer weiteren Ebene geht es um den Weg der Ukraine seit 2013 / 2014. Mit dem neoliberal-faschistischen Putsch von 2014 kamen dort Kräfte an die Macht, die die bisherige Position der Ukraine als Staat in der Einfluss-Sphäre Russlands in Frage stellten – was gleichbedeutend mit einer Parteinahme für NATO und EU war und auch offen so gesagt wurde. Dass in dem diese Wende herbeiführenden Putsch massive Einmischung von Kräften der USA und – in Konkurrenz mit ihnen – mindestens Deutschlands und Frankreichs nachgewiesen werden konnte steht ebensowenig ausser Frage, wie die Tatsache, dass dieser Putsch nur mit offen faschistischen Kräften („Swoboda[29]“, „Rechter Sektor“, „Asow“ usw.) gewonnen werden konnte, was westliche Politikberater eindeutig bestätigten.[30]

Diese Kräfte blicken insbesondere in der Westukraine auf jahrzehntelange Wurzeln des tiefsten Nationalismus und der Kollaboration mit dem deutschen Faschismus zurück, die heute nicht mehr verborgen, sondern offen gefeiert werden: Stepan Bandera ist Nationalheld der Ukraine, der ukrainische Botschafter in Deutschland, Melnyk, legte 2015 Blumen am Grab dieses Schlächters der Juden und Kommunisten von Lemberg (Lwow/Lviv) nieder, wie er stolz auf Twitter verkündete, am Grab also des Anführers der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN), die zwischen 1941 bis 1944 für etwa 100.000 Tote verantwortlich ist, mit der SS-Freiwilligen-Divisionen „Galizien“ oder „Nachtigall“ zusammenarbeitete, und zum Beispiel im Vernichtungslager Sobibor den grössten Teil der Wachmannschaft stellte, wie in Claude Lantzmanns Film „Sobibor, 14.Oktober 1943, 16 Uhr“ eindrucksvoll gezeigt wird.

Für seine antisemitischen und antikommunistischen Verbrechen damals wird Bandera heute am Ort seiner Mordtaten geehrt – zB. in Lviv. Eine Strasse heisst nach ihm und eine meterhohe Statue soll die Erinnerung an ihn wachhalten[31]. Die Zahl von Bandera-Staturen in der heutigen Ukraine ist Legion. Wenn also aktuell gespielt oder wirklich naiv gefragt wird, ob denn „die paar hundert bewaffneten Nazis des Asow-Bataillons“ wirklich die Charakterisierung der Ukraine als eines faschistoiden Staats rechtfertigen, wird der extrem nationalistische und antikommunistische ideologische Kitt dieses Staats komplett verkannt und verleugnet. Es spricht Bände über den – hier tatsächlich so zu bezeichnenden – „Staatsantifaschismus“ der BRD, wie von höchster Stelle der Kult um einen mörderischen und gegen alles Linke gerichteten Faschismus und Nationalismus als quasi säkulare Staatsreligion der Ukraine sehenden Auges toleriert wird – übrigens nicht anders als auch in den Staaten des Baltikum, denen Aussenministerin Baerbock soeben bescheinigte, von ihnen könne man viel über „wehrhafte Demokratie“ lernen. Dazu gehört offenbar auch die Ehrung ehemaliger SS-Freiwilliger.

Die Funktion dieser faschistoiden Bandera-Ideologie erschöpft sich natürlich nicht darin, sie zu zelebrieren. Es geht um eine doppelte Hinwendung zueinander: die einer derzeit herrschenden Oligarchen-Fraktion der Ukraine, eine tief verwurzelte a. ntirussische, nationalistisch-ukrainische Hinwendung nach „Westen“, und die von USA, NATO und EU dem entgegenkommende mit dem Ziel, die Ukraine im Sinn von Paul Rohrbach (Deutschland 1914) und Zbignew Brzesinski (USA 1997) zum Brecheisen gegen Russland zu machen[32]. Die derzeit Herrschenden in der Ukraine wollen genau das – und in nichts anderem besteht die vielzitierte „Wahlfreiheit“ der Ukraine. Sie, deren Sprecher Wolodymyr Selenskij ist, wollen im eigenen geschäftlichen und politischen Interesse für die Menschen ihres Staats die „Freiheit“ von Sklaven, vom einen zum anderen Sklavenhalter wechseln dürfen, obwohl ihre Interessen weder mit dem einen noch dem anderen etwas zu tun haben. Die „Wahlfreiheit“ der Ukraine, die NATO und EU nicht müde werden, heuchlerisch zu „vertreten“, besteht darin, im Interesse des „Westens“ und seiner Werte in einem völlig sinnlosen Krieg gegen Russland als den imperialistischen Konkurrenten des Westens zu verbluten – mit dem langfristigen Ziel der nachhaltigen Schwächung Russlands, wie das, siehe oben, schon im „Grossen Hauptquartier“ des kaiserlichen Deutschland 1914 diskutiert worden war.

Eine dritte Seite des Konflikts ist die Frage des Donbass. Die dortigen sich selbst so nennenden Volksrepubliken Lugansk / Luhansk und Donezk repräsentieren die Interessen einer mehrheitlich ethnisch-russischen Bevölkerung, die dem westorientierten und faschistoid begründeten Treiben der Herrschenden in der Ukraine von jeher misstrauisch bis feindlich gegenüberstehen. Heute, nach acht Jahren ständiger Überfälle der ukrainischen Armee auf die beiden Donbassrepubliken (14000 Tote) ist möglicherweise von deren ursprünglichen revolutionären Zielen nurmehr der Name „Volksrepublik“ übrig geblieben. Es gab diese Ziele.[33] Was aus ihnen geworden ist, werden wird, ist mehr als unsicher. Eins aber ist sicher: wenn der russische Imperialismus heute seinen Angriff auf die Ukraine mit dem Schutz der russischen Bevölkerung im Donbass begründet, tut er das im gleichen Ton wie westliche Imperialisten einschliesslich der BRD, die 1999 ihren Angriff auf Serbien samt der Bombardierung Belgrads mit dem Propagandaslogan „responsibility to protect“ („r2p“) legitimierten – man hat diese „wertebasierte“ Politik nicht zu Unrecht als „Menschenrechtsimperialismus“ bezeichnet. Beide Angriffe sind offen völkerrechtswidrig, beide argumentier(t)en in der gleichen Logik.

Der Ukraine-Krieg stellt sich also als imperialistischer Krieg dar, ein Krieg, in dem es seinem Klassencharakter nach nicht um die Befreiung oder den Schutz der Menschen auf der einen und der andern Seite der Front geht, sondern um die Frage, welche der beiden kriegführenden Parteien sie künftig ausbeuten bzw. sie in sein geopolitisches Vorfeld einbauen darf.

In einem solchen Krieg gibt es keine Seite, der denkende und fühlende Menschen den Sieg wünschen könnten – ganz abgesehen von Revolutionär:innen, die Kapitalismus und Imperialismus überwinden wollen. In diesem Sinn schrieb Lenin 1915 in seiner Schrift „Sozialismus und Krieg“: „Darin besteht doch gerade die Besonderheit des imperialistischen Krieges, eines Krieges zwischen reaktionär-bürgerlichen, historisch überlebten Regierungen, eines Krieges, der geführt wird zwecks Unterdrückung anderer Nationen. Wer die Teilnahme an diesem Krieg gutheisst der verewigt die imperialistische Unterdrückung der Nationen“ – und fuhr fort:

„Wer dafür eintritt, die Schwierigkeiten, in denen sich die Regierungen jetzt befinden, für den Kampf um die soziale Revolution auszunutzen, der verficht die wirkliche Freiheit wirklich aller Völker, die nur im Sozialismus durchführbar ist“[34], woraus er die Forderung ableitete, den imperialistischen Krieg in allen an ihm beteiligten Ländern „in einen Bürgerkrieg“ gegen die jeweils „eigene“ Bourgeoisie zu verwandeln[35].

Es kann kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass es sich bei allen direkt oder indirekt beteiligten Kriegsparteien des Ukraine-Konflikts in der Tat um „reaktionär-bürgerliche, historisch überlebte Regierungen“ im Sinn Lenins handelt – eine sozialistische Revolution müsste in der Ukraine und Russland, allen Staaten der EU und der NATO in der Tat in einem Bürgerkrieg erkämpft werden. Wer es anders sieht, müsste das glaubhaft machen können. Konsequenz: wer Russland heute zu einem nicht-imperialistischen Staat und den Ukrainekrieg als irgendetwas anderes als einen imperialistischen Krieg bezeichnet, ist nur noch einen winzigen Schritt von der Forderung entfernt, die russischen Arbeiterklasse auf „Burgfrieden“ und „Vaterlandsverteidigung“ zu verpflichten. Denn mehr als das Wort „Vaterland“ haben die Arbeiter:innen und die Bevölkerung der Russischen Föderation an ihrem Staat nicht, ebensowenig wie irgendeine Arbeiterklasse im Kapitalismus[36]. Die ukrainische Arbeiterklasse muss auf die Lüge vom „Vaterland“ nicht mehr verpflichtet werden, sie ist es bereits von ihren derzeit herrschenden Oligarchen und den Banderisten in ihrer Regierung, von Andrij Melnyk in Berlin, Olaf Scholz und Annalena Baerbock, Teilen der Kirchen und Gewerkschaften Arm in Arm mit NATO und Rheinmetall.

4 – Für eine eigenständige Position gegen Militarismus, Faschismus und Imperialismus

Wir leben nicht in der Ukraine, aber der dortige Krieg findet auch hier statt: „war starts here“, bei Rheinmetall, Krauss-Maffei-Wegmann, Heckler&Koch, und der Ampelregierung, in den Medien, überall. Er ist das beherrschende Thema der Zeit. Wie reagiert die gesellschaftliche Linke?

Erste Bedingung einer glaubwürdigen Haltung gegen den imperialistischen Krieg ist, sich nicht auf die eine der beiden Seiten zu stellen, und sei es auch die des vermeintlich schwächeren Teils. Der heute medial und gesellschaftlich erzeugte fast vollständige Konsens à la August 1914 sieht die Ukraine in dieser Rolle, weil absichtsvoll davon abstrahiert wird: an der Seite der Ukraine stehen letztlich die gewaltigsten Kriegsmaschinerien der Erde. In einer Art „einfachen Negation“ beziehen Linke nicht nur hierzulande die Gegenposition und meinen den Staat der Russischen Föderation verteidigen, für dessen Interessen eintreten zu sollen. Beides ist falsch und führt genau zu dem, was Lenin 1915 als „Verewigung der imperialistischen Unterdrückung“ bezeichnet hat.

Nicht nur in der Frage des imperialistischen Kriegs ist das eine bekannte Problemstellung. Thomas Metscher hat vor einigen Jahren im Anschluss an Georg Lukács dafür plädiert, angesichts des von ihm so bezeichneten „konstitutiven Irrationalismus der imperialistischen Gesellschaft als ihrer adäquaten Bewusstseinsform“ eine grundsätzliche Aussenposition einzunehmen: „„Als Regel dürfte gelten, dass die Position eines bewussten Widerstands zum Imperialismus als Gesamtsystem – im gewissen Sinn eine logisch-politische ‚Aussenposition‘ – die epistemische Bedingung dafür ist, dieses System als historisches Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse zu durchschauen und als strukturierte Totalität … erkennen zu können. Nur eine im Prinzip oppositionelle Theorie kann den Gesamtprozess noch als rationalen erfassen, die Irrationalität des ganzen rational diagnostizieren und damit auf den Begriff bringen. Von einer ‚Innenposition‘ her das heisst von der Position prinzipieller Akzeptanz der gegebenen Produktions- und Herrschaftsverhältnisse … ist eine solche Erkenntnis nicht möglich. Dies, nicht der mangelnde Intellekt ihrer Vertreter, ist der Grund dafür, dass es heute … keine bürgerlichen Theorien der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft mehr gibt, die deren Komplexität zu erfassen vermögen.“[37]

Eine kohärent argumentierende und eingreifende Bewegung gegen den Krieg, die diesem Imperativ der Ablehnung jeder „Innenposition“ und der Erarbeitung einer eigenen „Aussenposition“ gerecht werden will, muss antiimperialistisch, antimilitaristisch und antifaschistisch sein.

In Bezug auf den Ukrainekrieg sind nach meinem Verständnis die Eckpunkte einer eigenständigen Bewegung gegen den Krieg:

antifaschistisch, indem sie sowohl die Lüge und Heuchelei westlicher Medienvertreter:innen und Politiker:innen angreift, die vom Faschismus ihrer Bündnispartner in der Ukraine nichts hören wollen und alle, die das Gegenteil belegen, als „Putinversteher:innen“ mundtot machen möchten und einen unerträglichen „Russenhass“ schüren und tolerieren.

Aber auch gegen die Heuchelei der russischen Regierung und ihres Präsidenten, in dessen Land es mehr als genug faschistische Kräfte gibt, der selber ein ausgewiesener Bewunderer des mit dem Faschismus flirtenden russischen Philosophen Iwan A. Iljin[38] ist und seiner Entourage empfiehlt ihn zu lesen[39], und der mit seiner (ansonsten klar antikommunistisch legitimierten) Begründung, es gehe beim Angriff auf die Ukraine ernsthaft um deren „Entnazifizierung“ die antifaschistische Einsicht ignoriert, dass man zwar eine faschistische Armee militärisch besiegen kann, aber auf diese Weise niemals die gesellschaftlichen Wurzeln des Faschismus ausrotten kann – das historische Beispiel der Westzonen Deutschlands ist das Beispiel dafür;

antimilitaristisch, indem wir uns den Aufrüstungsprogrammen der deutschen Regierung und der Abwälzung von deren Folgen auf die Bevölkerung widersetzen auch wenn wir dafür von Repräsentanten des EU-Imperialismus wie Lambsdorff als „fünfte Kolonne Moskaus“ beschimpft werden; indem wir uns ein Beispiel an den Hafenarbeiter:innen in Genua und Thessaloniki nehmen, die den Transport von NATO-Waffen ins Kriegsgebiet behindern, boykottieren, sabotieren; indem wir uns mit den Machenschaften von Oberkriegsprofiteur Rheinmetall oder denen des „Bundesamts für Ausfuhrkontrolle“ (BAFA) beschäftigen, die seit Jahren mehr als 90% aller beantragten Rüstungsexporte genehmigen;

antiimperialistisch, indem wir Ernst machen mit der Erkenntnis, dass keine der beiden Kriegsparteien unserer Unterstützung wert sind, dass wir ihnen beiden die Niederlage wünschen und darum fordern:

– keine Waffenexporte für die Ukraine,

– sofortiger Stopp der Kohle-, Öl- und Gasimporte aus Russland,

also das genaue Gegenteil dessen, was die deutsche Regierung tut, und indem wir stattdessen aktiv viel mehr dafür tun, den imperialistischen Zusammenhang der gegenwärtigen multiplen Krise der Welt: Pandemie, Klimakatastrophe, Hunger und Krieg in Argumentation und Aktion aufzuzeigen, sichtbar machen, bekämpfen: den Kapitalismus in seinem imperialistischen und letzten Stadium, jenseits dessen entweder eine von ihm befreite Welt oder der „gemeinsame Untergang der kämpfenden Klassen“[40] zu erwarten ist.

Antiimperialistisch aber auch, indem wir den Imperialismus beider Seiten klar benennen und zu seiner Überwindung aufrufen – angefangen hier bei uns, zB. deutschen Rüstungskonzernen und deren Geschäfte besorgenden Politik, indem wir überall deutlich machen, den Imperialismus nicht nur der NATO und ihres derzeitigen Kettenhunds Ukraine zu benennen, sondern auch Russlands – und gleichwohl gegen den widerlichen Russenhass auftreten, der gerade um sich greift, in Kultureinrichtungen, Talkshows, Medien den alt-neuen Hass auf „die Russen“ schürt und damit doch nur bezweckt, die nationale Wagenburg zu schliessen und stattdessen konsequent die oben skizzierte „Aussenposition“ einnehmen: argumentativ, organisatorisch, aktivistisch.

Ich plädiere angesichts der gerade benannten „multiplen Krise“, zu der besonders drängend der aktuelle Ukrainekrieg gehört, für eine verbesserte Kultur und Praxis verbindlicher Diskussion, die sich gegenseitig nichts schenkt, aber auch auf der Suche nach Möglichkeitskorridoren gemeinsamen Handelns bleibt, die sich nicht im reformistischen Klein-Klein verliert aber auch nicht Aktion und Praxis durch folgenlose Diskussionsmarathons ersetzt. Auch wenn ich viele der Positionen in der heutigen Imperialismusdiskussion der KO nicht teilen kann – diese Diskussion öffentlich so zu führen empfinde ich als einen dankenswerten und guten Schritt vorwärts. Es wäre sehr wichtig und für alle von Gewinn, wenn Gruppen aus anderen politischen Spektren sich ähnlich öffentlich miteinander auseinandersetzten. Die oben skizzenartig dargestellten Praxisfelder schreien geradezu danach.

Das bedeutet nicht, theorieblindem Pragmatismus zu verfallen. Im Gegenteil. Wenn wir zB. heute nicht offen über die politischen Spektrengrenzen hinweg miteinander diskutieren, wie wir uns die Welt jenseits des Kapitalismus-Imperialismus denken, dann werden wir nie dort ankommen, wo er nicht mehr herrscht.

Wenn wir nicht verstehen, dass jeder politische Schritt, den wir gehen oder nicht gehen, uns dem Ziel einer Welt ohne Ausbeutung, Patriarchat, Rassismus, Hunger, Klimakatastrophe und Krieg entweder näherbringt oder von ihm wegführt, werden wir dieses Ziel nicht erreichen. Wenn wir nicht jetzt auch diskutieren, welche Organisations- und Aktionsformen wir dafür brauchen, können wir nicht gewinnen. Einen Beitrag zur Diskussion dessen habe ich im Kontext der Klimagerechtigkeitsbewegung vor einigen Monaten vorgelegt. Er ist analog auch auf die Bewegung gegen den imperialistischen anwendbar.[41]

Hans Christoph Stoodt

Fussnoten:

[1] https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fpolitik%2Fdeutschland%2F2022-02%2Folaf-scholz-regierungserklaerung-ukraine-rede

[2] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ukraine-krieg-die-100-milliarden-dollar-bazooka-von-olaf-scholz-a-daf9203c-2737-4cb2-9c99-308e50dea945

[3] https://wurfbude.wordpress.com/2014/04/12/euro-maidan-das-laute-schweigen-des-antifaschismus/

[4] https://wurfbude.wordpress.com/2014/08/14/frankfurt-4-august-2014-pro-zionisten-ex-antifas-und-ukrainischer-rechter-sektor-gemeinsam-fur-israel/

[5] https://wurfbude.wordpress.com/2014/09/12/der-ukraine-konflikt-als-epochenzasur/

[6] Dafür werden die Märchen von der armen Bundeswehr erfunden, deren Soldaten angeblich sogar ohne genügend Unterhosen an die Ostfront geschickt werden.

[7] https://www.mdr.de/nachrichten/welt/politik/neuer-hoechstand-bei-weltweiten-ruestungsausgaben-100.html

[8] das Territorium der Russischen Föderation ist etwa 50mal grösser als das deutsche, seine Bevölkerungsanzahl viermal.

[9] https://www.spiegel.de/geschichte/zwischen-moskau-und-berlin-a-5bf6b8f3-0002-0001-0000-000148207346

[10] Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, kindle-edition, S.141-143

[11] a.a.O.

[12] Hans Christoph Stoodt, Thesen zum Imperialismus (https://kommunistische.org/diskussion/thesen-zum-imperialismus/), aktuell am Besten: https://kommunistische.org/diskussion/tkp-thesen-zum-imperialismus-entlang-der-achse-von-russland-und-china-2017/

[13] Aleka Papariga: On the Imperialist Pyramid (https://inter.kke.gr/de/articles/On-Imperialism-The-Imperialist-Pyramid/)

[14] Dargestellt an einem konkreten Beispiel aus dem Jahr 2016: Hans Christoph Stoodt, Krach in der imperialistischen Pyramide (https://www.unsere-zeit.de/krach-in-der-imperialistischen-pyramide-45949/)

[15] Dagegen Thanassis Spanidis, Die Diskussion um den Klassencharakter der VR China (https://kommunistische.org/diskussion/die-diskussion-um-den-klassencharakter-der-vr-china-ausdruck-der-weltanschaulichen-krise-der-kommunistischen-weltbewegung/), vgl. Jakob Schulze, Offener Brief an die DKP (https://kommunistische.org/diskussion/offener-brief-an-die-dkp/)

[16] „Urgent: Joint Statement of Communist and Workers Parties: Not to the imperialist war in Ukraine!“ (http://www.solidnet.org/article/Urgent-Joint-Statement-of-Communist-and-Workers-Parties-No-to-the-imperialist-war-in-Ukraine/), derzeit von 41 internationalen Parteien und Initiativen sowie 30 Jugendorganisationen unterzeichnet.; noch einmal ausführlicher auch imperialismustheoretisch begründet in der Resolution des ZK der KP Griechenlands „Über den Krieg in der Ukraine“ (http://www.solidnet.org/article/CP-of-Greece-RESOLUTION-OF-THE-CENTRAL-COMMITTEE-OF-THE-KKE-ON-THE-IMPERIALIST-WAR-IN-UKRAIN/?fbclid=IwAR0xiFwAiO9Tzq2LX93QlM7J7RS3hjhjMsTfJCnLev4LsQamob67wp4i4gQ).

[17] http://www.solidnet.org/article/CP-of-the-Russian-Federation-CPRF-Position-concerning-the-special-operation-of-the-RF-in-Ukraine/

[18] Alexander Stepanow, Kommunisten und die aktuelle Weltkrise (https://rkrp-rpk.ru/2022/03/25/коммунисты-и-нынешний-мировой-кризис/

[19] https://www.sdaj.org/2022/03/09/freiheit-fuer-die-genossen-kononovich/

[20] Vgl. zB. als zusammenhängende Darstellung dieser Analyse durch die DKP: DKP-Bildungszeitung „Kommunisten und der Kampf um Frieden“, Juli 2018 (https://dkp.de/wp-content/uploads/2019/09/DKP-Bildungsheft_Frieden.pdf), sowie aktuell zur Frage des Ukraine-Kriegs: Patrik Köbele, Frieden geht nur mit Russland und China (https://www.unsere-zeit.de/frieden-geht-nur-mit-russland-und-china-168025/)

[21] https://www.unsere-zeit.de/sdaj-zum-krieg-in-der-ukraine-166277/

[22] Alle Beiträge: https://kommunistische.org/category/diskussion-imperialismus/

[23] https://kommunistische.org/programmatische-thesen/4-der-imperialismus/

[24] https://kommunistische.org/category/diskussionstribuene-klima/

[25] Thanassis Spanidis, Das zwischenimperialistische Kräftemessen und der Angriff Russlands auf die Ukraine (https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/das-zwischenimperialistische-kraeftemessen-und-der-angriff-russlands-auf-die-ukraine/; ders., Zur Verteidigung der Programmatischen Thesen der KO (https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/zur-verteidigung-der-programmatischen-thesen-der-ko/); Bob Oskar, Russlands imperialistischer Krieg (https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/russlands-imperialistischer-krieg/).

[26] a.a.O., Anm. 10: Alexander Batov et al. 2007: Der heutige Russische Imperialismus (russisch), online: https://rksmb.org/articles/ideology/sovremennyiy-rossiyskiyimperializm/?fbclid=IwAR1ZQZ3NWtjjweJF5MeyEwG35L1KXs–8ysjGTG0-k1k_1Xsxa603BjjyUM

[27] Der Zweite Weltkrieg wurde von der Führung der Kommunistischen Internationale (KI) nach dem Angriff Nazideutschlands auf Polen als imperialistischer Krieg bewertet, vgl. Georgi Dimitroff, Tagebücher 1933 – 1943, Berlin 2000, S. 273 – 275. Er änderte seinen Klassencharakter mit dem Angriff gegen die UdSSR 1941 grundlegend – von einer zwischenimperialistischen Auseinandersetzung zu einem Angriff gegen den damals einzigen sozialistischen Staat der Erde. Die taktische Volksfront-Orientierung des VII. Weltkongresses gegen den deutschen Faschismus von 1935 muss rückblickend im Zusammenhang dieser Entwicklung gelesen werden, vgl. Hans Christoph Stoodt, Was ist ein breites Bündnis? (https://wurfbude.wordpress.com/2017/01/11/was-ist-ein-breites-buendnis/) und Thanassis Spanidis, Der VII. Weltkongress der Komintern und seine Folgen (https://kommunistische.org/diskussion/der-vii-weltkongress-der-komintern-und-seine-folgen/) und ders., Für eine Diskussion ohne heilige Kühe (https://kommunistische.org/diskussion/fuer-eine-diskussion-ohne-heilige-kuehe/).

[28] so bereits 2014, vgl. dazu die Anm. 27 zitierte Analyse. Die Widersprüche zwischen USA / Grossbritannien / Polen und den Baltischen Staaten einerseits, Deutschland und Frankreich andererseits treten auch heute in den Diskussionen der NATO offen zutage.

[29] Hans Christoph Stoodt, Die Bundesregierung, das „Joseph-Goebbels-Zentrum“ der Swoboda und Julia Timoschenkos Atom-Ambitionen (https://wurfbude.wordpress.com/2014/03/25/die-bundesregierung-das-josef-goebbels-zentrum-der-swoboda-und-julia-timoschenkos-atom-ambitionen/); ders., Ukraine: Swoboda benennt Forschungszentrum um. Alles andere wie gehabt (https://wurfbude.wordpress.com/2014/07/13/ukraine-swoboda-benennt-forschungszentrum-um-alles-andere-wie-gehabt/).

[30] vgl. oben, Anm. 3.

[31] Jörg Tauss, Lviv ehrt Nazikollaborateur und Kriegsverbrecher, Telepolis, 28.2.2019 (https://www.heise.de/tp/features/Lviv-ehrt-Nazikollaborateur-und-Kriegsverbrecher-4319933.html)

[32] zu Paul Rohrbach s.o., Zbignew Brezinski ist 1997 mit dem Diktum berühmt geworden: „Ohne die Ukraine ist Russland keine Grossmacht“ (https://www.tagesspiegel.de/politik/brzezinski-buch-von-1997-erklaert-putins-vorgehen-ohne-die-ukraine-ist-russland-keine-grossmacht/28075052.html)

[33] Hans Christoph Stoodt, Verdammter Krieg. Überlegungen zur Lage in der Ukraine und der deutschen Linken ein Jahr nach dem Euromaidan (https://wurfbude.wordpress.com/2015/02/21/verdammter-krieg-uberlegungen-zur-lage-in-der-ukraine-und-in-der-deutschen-linken-ein-jahr-nach-dem-euromaidan/).

[34] W.I. Lenin, Werke, Bd. 21, S. 306

[35] ebenda, S. 314

[36] „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben. Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur führenden Klasse der Nation erheben, sich selbst als Nation erheben muss, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinn der Bourgeoisie. Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie … Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen.“ Karl Marx / Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW 4, S. 479

[37] Thomas Metscher, Logos und Wirklichkeit, Frankfurt 2010, S. 375f; vgl. Hans Christoph Stoodt, Irrationalismus und imperialistische Gesellschaft (https://wurfbude.wordpress.com/2019/06/01/irrationalismus-und-imperialistische-gesellschaft/).

[38] https://de.wikipedia.org/wiki/Iwan_Alexandrowitsch_Iljin

[39] https://www.eurozine.com/gott-ist-russe/

[40] Marx / Engels, Manifest der kommunistischen Partei, a.a.O, S. 462.

[41] Hans Christoph Stoodt, Auf der Suche nach der Furt. Diskussionsbeitrag zu Payal Parekh & Carola Rackete, Wie kann die Klimabewegung ihren Kampf eskalieren, um die Machtverhältnisse zu verändern? (https://wurfbude.wordpress.com/2021/10/18/auf-der-suche-nach-der-furt/)