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IMI-Analyse 2022/26

Dreht sich die Stimmung über den Ukraine-Krieg in Deutschland?

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 11. Mai 2022

 

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Keine Verhandlungen – Mehr Waffen –  Mehr Eskalation: Es wird immer offensichtlicher, dass sich die westliche Ukraine-Politik auf diese knappe Formel zusammenfassen lässt. Im Zentrum steht dabei die Lieferung schwerer Waffen, die für eine ukrainische Offensive zur Rückeroberung verlorener Gebiete gedacht sind. Auch Deutschland wird insbesondere mit der kürzlich beschlossenen Lieferung von Panzerhaubitzen immer mehr zur Kriegspartei. Doch je deutlicher sich die Konturen dieser überaus riskanten Stellvertreter-Strategie herauskristallisieren, desto stärker wandelt sich trotz medialer Dauermobilmachung die Stimmung in der Bevölkerung, die wenn sie vielleicht auch nicht komplett kippt, sich dennoch in jüngster Zeit deutlich verschiebt.

Keine Verhandlungen

Es lohnt noch einmal ein Blick zurück: Ende März 2022 waren die Medien voll mit Berichten, die Ukraine und Russland stünden kurz vor einer Verhandlungslösung zur Beendigung des Krieges. Beim Redaktionsnetzwerk Deutschland hieß es: „Russlands Krieg gegen die Ukraine könnte durch die Verhandlungen schneller beendet werden, als Beobachter bisher angenommen haben. […] Demnach gebe es einen ersten Entwurf des Waffenstillstandsdokuments, in dem einige der Forderungen Russlands aber fehlen. […] Russland [soll] in dem Dokument nicht mehr an seinen Forderungen festhalten, die Ukraine zu ‚entnazifizieren‘ und zu ‚entmilitarisieren‘. […] Die Ukraine [soll] in den Gesprächen angeboten haben […], über die Zukunft der Krim Verhandlungen über einen Zeitraum von bis zu 15 Jahren zu akzeptieren. […] Zudem sei die Ukraine angeblich bereit, einen neutralen Status zu akzeptieren, wenn es Sicherheitsgarantien verschiedener Staaten für den Fall eines erneuten russischen Angriffs geben sollte – darunter auch China.“

Selbst ein EU-Beitritt scheint wohl Gegenstand der Gespräche gewesen und von Russland akzeptiert worden zu sein. Kurz nach Abschluss der Istanbul-Verhandlungen wurde Moskaus Unterhändler Wladimir Medinski mit den Worten zitiert: „Die Russische Föderation hat keine Einwände gegen Bestrebungen der Ukraine, der Europäischen Union beizutreten.“

Was dann genau geschehen ist, wird wenn überhaupt wohl erst in vielen Jahren herauskommen. Unmittelbar nach der Annäherung bei den Verhandlungen mehrten sich jedenfalls schon skeptische Stimmen westlicher Regierungschefs, namentlich von Boris Johnson und Joseph Biden. Bereits am 5. April 2022 berichtete die Washington Post darüber, innerhalb der NATO werde die Fortsetzung des Krieges gegenüber einer Verhandlungslösung derzeit präferiert (siehe Schwere Waffen für die Ukraine: „Raus aus der Eskalationslogik“).

Am 7. April 2022 meldete sich dann Russlands Außenminister Sergej Lawrow mit der Aussage, es seien von ukrainischer Seite Änderungen an den Verhandlungsdokumenten vorgenommen worden, die eine Einigung erschweren würden. Anfang Mai 2022 wiederholte Lawrow diese Aussage erneut: „Wir haben den Gesprächen auf Ersuchen von Wladimir Zelenskij zugestimmt, und sie begannen, an Dynamik zu gewinnen. Im März wurden auf einem Verhandlungstreffen in Istanbul Vereinbarungen getroffen, die auf den öffentlichen Äußerungen von Wladimir Zelenskij beruhten. Er sagte, die Ukraine sei bereit, ein neutrales, blockfreies Land ohne Atomwaffen zu werden, wenn sie Sicherheitsgarantien erhalte. Wir waren bereit, auf dieser Grundlage zu arbeiten, vorausgesetzt, das Abkommen würde vorsehen, dass die Sicherheitsgarantien nicht für die Krim und den Donbass gelten, wie die Ukrainer selbst vorgeschlagen hatten. Unmittelbar nach diesem Vorschlag, den sie unterzeichnet und uns übergeben haben, haben sie ihre Position geändert.“

Vor diesem Hintergrund deuten die Indizien deutlich darauf hin, dass der Westen (oder zumindest die USA und eine Reihe weiterer Verbündeter) derzeit von einer Verhandlungslösung nichts wissen wollen – und dies der Ukraine auch signalisiert haben. Stattdessen soll die sich nun bietende Gelegenheit wohl genutzt werden, um Russland so weit als möglich zu schwächen (siehe Schwere Waffen für die Ukraine: „Raus aus der Eskalationslogik“). Dies wurde im Übrigen von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin nach seinem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski Ende April 2022 auch ganz offen als zentrales Ziel der USA so benannt (siehe Beim Ukraine-Krieg geht es nicht um die Ukraine).

Erreicht wird dies, indem erst verhandelt werden soll, wenn die russischen Truppen militärisch vollständig aus der Ukraine vertrieben sind – also erst dann, sollten sie faktisch besiegt worden sein. Ende April äußerte sich beispielsweise die britische Außenministerin Liz Truss derart in einer Grundsatzrede namens „Die Geopolitik ist zurück“, der die britische Regierung auch extra eine deutsche Übersetzung spendierte: „Wir müssen unsere Unterstützung für die Ukraine deutlich ausbauen. […] Der Krieg in der Ukraine ist unser Krieg – er ist unser aller Krieg, denn der Sieg der Ukraine ist für uns alle eine strategische Notwendigkeit. Schwere Waffen, Panzer, Flugzeuge – wir greifen tief in unsere Waffenarsenale, fahren die Produktion hoch. Das alles ist notwendig. […] Wir werden noch schneller noch mehr tun, um Russland aus der gesamten Ukraine zu vertreiben.“

Ähnlich klang nahezu zur selben Zeit auch US-Verteidigungsminister Lloyd Austin nach einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Die FAZ wies kurz danach darauf hin, augenscheinlich verfolgten die USA nun das Ziel einer maximalen Schwächung Russlands: „Zwei Monate nach Kriegsbeginn setzt Washington sich neue Ziele. Die amerikanische Regierung bereitet sich auf eine jahrelange Auseinandersetzung mit Moskau vor. […] Die schweren Waffen, die Washington und viele westliche Verbündete nun liefern, sollen aber nicht nur die Kosten für Russlands Krieg erhöhen, sondern das Land in seiner Niederlage nachhaltig schwächen. Man geht von einer Jahre dauernden Auseinandersetzung aus. Amerika wird so wieder wie im Kalten Krieg zu der zentralen europäischen Macht.“ 

Die „Logik“ schwerer Waffen

Die nun von immer mehr westlichen Staaten, unter anderem von Deutschland, beschlossene Lieferung schwerer Waffen passt zur westlichen Stellvertreter-Strategie. Denn die bisherige ukrainische Bewaffnung war zwar „geeignet“, um den russischen Vormarsch zu erschweren, aber für eine Rückeroberung verlorener Gebiete war sie weitgehend untauglich. Dafür braucht es schweres Gerät, das nun massenweise an die Ukraine geliefert wird – zusammen mit der wohl unmissverständlichen Forderung im Gepäck, in die Offensive zu gehen.

Das ist jedoch nichts anderes, als das Rezept für einen lang andauernden katastrophalen Stellvertreter-Krieg, wie etwa der Historiker Jörg Baberowski, der seit Jahren eher durch recht putinkritische Töne auffiel, recht unmissverständlich ausführte: „Ich habe Zweifel, ob es gelingen wird, durch die Lieferung schweren Kriegsgeräts an die Ukraine den Konflikt zu beenden. Putin wird sich nicht geschlagen geben, weil er sich eine Niederlage nicht leisten kann. Die Folgen eines langwierigen Zerstörungs- und Vernichtungskrieges werden für Russland und die Ukraine verheerend sein. […] Jetzt kommt es darauf an, einen neutralen Vermittler zu finden, der einen Frieden aushandelt, von dem beide Seiten einen Gewinn haben. Eine andere Lösung kann es gar nicht geben, wenn wir einen langen Zermürbungskrieg verhindern wollen.“

Dennoch – oder wohl: gerade deswegen – nimmt die Lieferung schwerer Waffen immer weiter Fahrt auf. Allein die USA sollen seit Kriegsbeginn Waffen im Wert von 3,7 Mrd. Dollar an die Ukraine geliefert haben – doch das ist nichts gegenüber dem, was US-Präsident Joseph Biden erst Ende April 2022 laut dpa zusätzlich dazu beim Kongress beantragt hat: „Die US-Regierung rüstet die Ukraine im großen Stil auf, um das Land im Krieg gegen Russland zu unterstützen. Biden hatte […] angekündigt, den Kongress hierzu um die Bewilligung von weiteren 33 Milliarden US-Dollar (31,4 Milliarden Euro) zu bitten. 20 Milliarden davon sollen für Militärhilfe genutzt werden.“ Dem US-Kongress ging das nicht weit genug: Er bewilligte am 10. Mai 2022 noch einmal 7 Mrd. Dollar mehr, die soweit ersichtlich ebenfalls in Waffen fließen sollen, sodass sich die Gesamtunterstützung nun auf 40 Mrd. Dollar beläuft.

Kriegspartei Deutschland?

Deutschland wiederum will den Großteil der Mitte April 2022 neu ausgelobten 2 Mrd. Euro für die „Ertüchtigung“ befreundeter Akteure für die Ukraine verwenden. Zwar berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland erst vor wenigen Tagen, aus einer Anfrage der Linken-Abgeordneten Sevim Dagdelen gehe hervor, der Wert deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine würde sich bislang „nur“ auf rund 190 Mio. Euro belaufen, allerdings dürfte dieser Wert mit der nun beschlossenen Lieferung schwerer Waffen schnell in die Höhe schießen.

Schon Ende April wurden 50 Gepard-Flugabwehrpanzer bewilligt, während es zunächst um die Lieferung von Panzerhaubitzen 2000 noch widersprüchliche Informationen gab (siehe Schickt Scholz Panzerhaubitzen der Bundeswehr in die Ukraine?). Am 6. Mai 2022 wurde dann aber auch über deren Bewilligung berichtet: „Deutschland will der Ukraine weitere schwere Waffen liefern: Nach Angaben von Verteidigungsministerin Lambrecht soll Kiew sieben Panzerhaubitzen vom Typ 2000 erhalten. Auch eine Ausbildung werde den ukrainischen Streitkräften angeboten.“

Am 10. Mai 2022 sollen mehrere Dutzend ukrainische SoldatInnen in Deutschland angekommen sein, die an der Artillerieschule der Bundeswehr in Idar-Oberstein ausgebildet werden sollen. Spätestens damit droht Deutschland aber laut dem im Auftrag der Linken erstellten Gutachten „Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme“ die Schwelle zur Kriegspartei zu überschreiten. Bei der bisherigen Unterstützung handele es sich um eine „Gratwanderung“, heißt es darin. Mit ihr seien „gravierende rechtliche und militärische Folgen verbunden – von einer geographischen Ausweitung des Konfliktgebietes bis hin zum (nuklearen) Eskalationspotential.“ Allerdings sei im Falle einer – beim Ukraine-Krieg eindeutigen – Verletzung des Gewaltverbots der UN-Charta „kein Staat mehr zur ‚Neutralität‘ gegenüber den Konfliktparteien verpflichtet.“ Dabei wäre durch eine „militärische Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei in Form von Waffenlieferungen […] noch nicht die Grenze zur Konfliktteilnahme“ überschritten. Allerdings legt das Gutachten nahe, dass durch die nun beschlossene in Deutschland erfolgende Ausbildung ukrainischer SoldatInnen für den Gebrauch der Panzerhaubitze 2000 diese rote Linie wohl endgültig überquert werden könnte: „Wenn neben der Belieferung mit Waffen auch die »Einweisung der Konfliktpartei bzw. Ausbildung an solchen Waffen in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen«.“

Zwar weist der militärnahe Blog Augengeradeaus richtigerweise darauf hin, dass sich diese Einschätzung nur auf eine Quelle beziehe, den zitierten Bochumer Völkerrechtler Pierre Thielbörger. Dennoch ist völlig klar, dass die Bundesregierung wie auch ihre NATO-Verbündeten ein immer gefährlicheres Spiel mit dem Feuer betreiben, dem ein immenses Eskalationspotential innewohnt.

Dreht sich die Stimmung?

Augenscheinlich nimmt die Zahl derer, die im Eskalationskurs des Westens und der Bundesregierung eine große Gefahr erblicken, an Zahl zu. Deutlichstes Beispiel hierfür war der von der Emma veröffentlichte und zunächst von 28 Intellektuellen und KünstlerInnen unterzeichnete offene Brief an Olaf Scholz. In ihm wird sowohl vor dem „Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt“ und dem „Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung“ gewarnt, die von der westlichen Stellvertreter-Strategie verursacht werden (siehe „Risiko einer Ausweitung des Krieges auf ganz Europa“).

Sofort wurde scharf gegen die UnterzeichnerInnen geschossen, unter anderem mit einem von rund 50 Personen unterstützten offenen Brief des Zentrums für Liberale Moderne, das sich immer mehr als Bastion der Hardliner etabliert. Trotz aller Häme gegenüber dem – zugegebenermaßen teils nicht sonderlich elegant formulierten – Schreiben scheint es die Sorgen eines immer größeren Teils der Bevölkerung auf den Punkt gebracht zu haben. Den in eine Petition umgewandelten offenen Brief an Olaf Scholz haben inzwischen immerhin bereits rund 235.000 Menschen unterzeichnet.

Generell bestätigen jüngste Umfrageergebnissen, dass sich die Stimmung in Deutschland dreht – so berichtet das RTL/ntv Trendbarometer am 3. Mai über seine jüngsten Befragungsergebnisse: „Hatten sich in der letzten Erhebung Anfang April noch 55 Prozent der Bundesbürger für eine Lieferung von Offensivwaffen und schwerem Gerät an die Ukraine durch Deutschland ausgesprochen, ist dieser Anteil im aktuellen RTL/ntv Trendbarometer auf 46 Prozent gesunken. Von 33 auf 44 Prozent gestiegen ist demgegenüber der Anteil der Bundesbürger, die sich generell gegen die Lieferung von Offensivwaffen und schwerem Gerät an die Ukraine aussprechen.“

Bei diesem Artikel handelt es sich um eine aktualisierte und erweiterte Version, deren erste Fassung unter demselben Titel zuerst am 7. Mai 2022 bei Telepolis erschien.