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Die NATO rüstet seit Jahren für einen Krieg gegen Russland auf – auch mit tatkräftiger Unterstützung Deutschlands.

NATO-Manöver in Lomza, Polen, Mai 2022.

In seiner Regierungserklärung zum Ukraine-Konflikt forderte der deutsche Kanzler eine „patriotische Mehrheit“ und „grosse nationale Kraftanstrengung“, um die Bundeswehr fit zu machen für einen Krieg gegen Russland. Seitdem hat der Bundestag per Grundgesetzänderung einen 100 Milliarden Kriegskredit beschlossen. In seiner Rede spricht Olaf Scholz immer wieder von einer „Zeitenwende“. Als hätte es die Ukraine-Krise 2014 nicht gegeben. Damals war es dem Westen trotz Putsch nicht gelungen, seine Ostexpansion vollständig durchzusetzen. Das Land ist seitdem zwar in Teilen, aber eben nicht vollständig, unter Einfluss des Westens. Der damals ausgebrochene Bürgerkrieg konnte zwar zeitweise eingefroren, aber nie aufgelöst werden. Die Ukraine ist seitdem ein geostrategisches Pulverfass. Vor diesem Hintergrund bereitet sich der NATO-Block seit bald zehn Jahren auf einen Krieg gegen Russland vor. Nicht 2022, sondern 2014 war die Zeitenwende.

Epochenwechsel – der NATO-Gipfel 2014

In der Abschlusserklärung des NATO-Gipfels im Jahr 2014 sprechen die Mitgliedsstaaten von einem „Schlüsselmoment“ (NATO 2014) in der Geschichte der Organisation. Die NATO vollzog seither einen historischen Strategiewechsel: von der selbsternannten Weltpolizistin zurück zur Grossmachtkonfrontation. Das „stärkste und erfolgreichste Bündnis der Geschichte“ (NATO 2019) fühlt sich zwar immer noch bedroht von einem Grossteil der Weltbevölkerung. Ganze Weltregionen erklärt es zu „Herausforderungen“: „die südliche Nachbarschaft, der Mittlere Osten und Nord Afrika“ (NATO 2014); doch zum ersten Mal seit Ende des Kalten Krieges nennt das Bündnis auch Russland im Zuge seiner Analyse der Bedrohungslage.

Russland stelle die „regelbasierte internationale Ordnung“ in Frage und fordere die „Euro-Atlantische Sicherheit“ (ebd.) heraus. Nachdem der Fokus der NATO nach Ende des Kalten Krieges out-of-area, also ausserhalb des Bündnisgebiets, lag, sehen die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten seit 2014 die „grösste Verantwortung“ der NATO wieder in der sogenannten Landes- und Bündnisverteidigung. Den historischen Kurswechsel begründen sie 2014 noch ausschliesslich mit Russlands Verhalten in der Ukraine-Krise, auch wenn das in (mindestens) zweierlei Hinsicht nicht den Tatsachen entspricht.

Erstens schieben die NATO-Länder Russland die Schuld für die Krise in die Schuhe, die sie selbst mit drei Jahrzehnten ungebremster Ostexpansion herbeigeführt haben. Zweitens ist Russland dem NATO-Block schon länger ein Dorn im Auge; zum Beispiel 2008 im Kontext des Georgien-Krieges und ab 2011 im Syrien-Krieg. Die Spannungen im transatlantisch-russischen Verhältnis sind nicht 2014 vom Himmel gefallen. Durch die Beschlüsse auf dem Wales-Gipfel hat die NATO das Jahr 2014 allerdings tatsächlich zur Zeitenwende gemacht: Es ist das Jahr, in dem die NATO offiziell ihren Aufmarsch gegen Russland begann.

Die Militarisierung Osteuropas

Nachdem die NATO-Staaten 2014 Russland zur Herausforderung ihrer Sicherheit erklärt hatten, beschlossen sie als nächsten Schritt eine Debatte, um diese weitreichende Entscheidung in eine neue, gemeinsame Strategie im Umgang mit Russland zu giessen. Ein gemeinsamer langfristiger Plan für die Russlandpolitik fehlte noch. Dies hinderte das Bündnis allerdings nicht daran, noch im selben Jahr zahlreiche konkrete kurz- bis mittelfristige Massnahmen gegen Moskau zu beschliessen. Zentral war dabei die sogenannte forward presence (in etwa: Präsenz nach vorne), die erhöhte militärische Präsenz entlang der Grenzen des NATO-Einflussgebietes zu Russland.

Mit dem 2014 beschlossenen Readiness Aktion Plan (RAP, Bereitschafts-Aktions-Plan) unternahm das Bündnis in den folgenden zwei Jahren die ersten Schritte hin zur Militarisierung Osteuropas. Darüber hinaus kündigte die NATO auf besagtem Gipfel nicht weiter definierte Aktivitäten für den Schwarzmeerraum an. Vor allem mit Blick Richtung Russland schreiben die Regierungschefs in ihrer Gipfelerklärung, das transatlantische Bündnis brauche „fähige Streitkräfte in hoher Bereitschaft“, dazu wollen sie ihre „militärischen Fähigkeiten […] stärken“ (NATO 2014). Mit dem Defence Planning Package (Verteidigungsplanungspaket) setzte der NATO-Block 2014 strategische Prioritäten für über die Staatsgrenzen hinweg zielgerichtete Vorbereitungen auf einen Krieg gegen Russland.

Der RAP hatte zwei ineinandergreifende Ziele: der Aufbau einer permanenten militärischen Präsenz und „bedeutende militärische Aktivitäten“ (ebd.) des NATO-Blocks in den Gebieten der Ostexpansion einerseits und das Aufstellen von Nachschubtruppen in hoher Bereitschaft andererseits. Die NATO beschloss diese Massnahmen nicht nur, sondern setzte sie auch im Laufe von zwei Jahren tatsächlich um. Teil des Plans war ein „ehrgeiziges“ (NATO 2016) Übungsprogramm. Aufmärsche von mehreren zehntausend NATO-Soldaten rund um die russische Grenze hat das Bündnis seitdem zur neuen Normalität gemacht. Mit dem RAP begann die NATO ausserdem den Aufbau einer „Kommando- und Kontrollpräsenz“ in ehemalig sowjetischem Territorium beziehungsweise Einflussgebiet.

Dazu zählen NATO-Force Integration Units (NATO-Truppen-Integrations-Einheiten) in acht osteuropäischen Staaten, das Hauptquartier Multinational Corps Northeast in Szczecin (Polen) und das Hauptquartier Multinational Division South-East in Bukarest (Rumänien). Im Konfliktfall sind diese Kräfte ausdrücklich zum Einsatz gegen Russland vorgesehen (NATO 2014). Zudem sind sie als „flexible und skalierbare“ Basis von NATO-Aktivitäten in der Region konzipiert. Mit ihnen hat die NATO den Grundstein für grössere militärische Aktivitäten in der Region gelegt.

Teil des RAD war es auch, den NATO-Block zu befähigen, Truppenverbände „schnell und effektiv“ in Richtung russische Grenze zu verlegen. Im Rahmen des RAD begann die NATO, die Infrastruktur entlang der transatlantischen Nachschubrouten vorzubereiten, dort weiteres militärisches Gerät und Vorräte zu deponieren und Militärbasen ihre Funktion im Aufmarsch gegen Russland zuzuweisen. Darüber hinaus beinhaltet der RAD die „signifikante“ Verstärkung der NATO Response Force (NRF, Schnelle Eingreiftruppe), also der NATO-Nachschubtruppen.

Einerseits ganz einfach durch das Erhöhen ihrer Truppenstärke auf 40.000 Soldaten (dreimal so viel wie davor) und andererseits durch das Aufbauen der Unterstruktur Very High Readiness Joint Task Force (Gemeinsame Truppe mit sehr hoher Einsatzbereitschaft; im Deutschen oft Speerspitze). Die Speerspitze ist seit 2015 zertifiziert, in Manövern erprobt und in zwei bis drei Tagen weltweit einsetzbar. Sie dient dazu, die Bereitschaft der NRF und damit der NATO zu erhöhen. Auch der Ausbau der Stehenden NATO-Marineverbände war Teil des RAD und erhöhte die Bereitschaft des Bündnisses.

Darüber hinaus ermahnen sich die NATO-Staaten in der Gipfelerklärung von Wales gegenseitig, ihre nationalen Streitkräfte in „angebrachte Bereitschaft und Geschlossenheit“ (NATO 2014) zu bringen. Das Bündnis setzt nicht auf offizielle NATO-Truppen, sondern auf die nationalen Armeen seiner Mitglieds- und Partnerstaaten, die bei Bedarf in den Dienst des Bündnisses gestellt werden. Um die einzelnen Armeen des NATO-Blocks über die nationalen Standards und Befehlsketten eng zu verzahnen, beschloss das Bündnis 2014 zwei Formate: das Rahmennationenkonzept und die Partnership Interoperability Initiative. Das erste erlaubt es einzelnen NATO-Staaten, in militärischen Missionen die Führung zu übernehmen und sich Teile anderer Streitkräfte unterzuordnen, um deren Fähigkeiten, Soldaten oder Waffensystem zu nutzen. Das zweite führt 24 Partnerstaaten (die keine offiziellen NATO-Mitglieder sind) an die militärischen Standards des Bündnisses heran. Zu den inoffiziellen NATO-Truppen-Stellern gehört unter anderen die Ukraine.

Zwischen Krieg und Frieden

Zusätzlich zum RAD beschloss die NATO 2014 ihre sogenannte strategische Kommunikation, also ihre Propaganda-Kampagnen, auszuweiten. Darüber hinaus hat sie Cyberaktivitäten zu einem ihrer Kernaufgabenfelder erklärt und hybride Kriegsführung insgesamt zum Thema gemacht. Diese ist seitdem Teil der Kriegsszenarien, die die NATO-Soldaten in ihren Manövern proben. Die Verantwortlichen von Cyberangriffen sind gewöhnlich auch für Expert:innen kaum festzustellen. Trotzdem benennt die NATO in ihrer Gipfel-Erklärung Cyberattacken als legitimen Kriegseintrittsgrund des Bündnisses nach Artikel 5 der NATO-Verträge (Beistandsklausel).

Damit öffnet sie sich Tür und Tor, wann immer nötig, Kriegseintrittsgründe zu (er)finden. Ausserdem hat die NATO nach dem Gipfel eine eigene Strategie der hybriden Kriegsführung entwickelt, die sie nach eigenen Angaben unter Abstimmung mit der EU umsetzt (NATO 2016). Mit dem Begriff der hybriden Kriegsführung verwischt die NATO die Grenze zwischen Krieg und Frieden. Aktionen ziviler, oder zumindest nicht-staatlicher Akteure beziehungsweise Handlungen unterhalb der Schwelle direkter militärischer Gewalt (Sabotage, mutmassliche Cyberangriffe, Einflussnahme auf Protestbewegungen, Beeinflussung der öffentlichen Meinung eines anderen Staates und so weiter) definiert der NATO-Block zu Kriegshandlungen um. Nach dieser Definition wäre die Unterstützung der Maidan-Putschisten ein kriegerischer Akt unter anderem der USA und der BRD gegen die Ukraine.

All diese Fähigkeiten und Truppen aufzubauen und zu unterhalten kostet Milliarden. Dementsprechend haben die NATO-Staaten sich 2014 zum Ziel gesetzt, bis 2024 alle der NATO-Richtlinie zu entsprechen, nach der mindestens zwei Prozent des BIP in den Wehretat fliessen sollen. Dem sogenannten Zwei-Prozent-Ziel wurde in Wales noch das Defence Investment Pledge (Verteidigungsinvestitionsversprechen) hinzugefügt: 20 Prozent des Wehretats sollen in die Erforschung und Entwicklung neuer militärischer Fähigkeiten, also in die Aufrüstung, fliessen. Dabei sind die Bündnispartner in der Gipfel-Erklärung angehalten, ihre Aufrüstungsprogramme so zu gestalten, dass die nationalen Armeen bei Bedarf ohne Probleme zu einer geeint handlungsfähigen und gut ausgerüsteten NATO-Streitkraft verschmelzen können.

2016 bis 2022 – logische Schritte auf einem Irrweg

Auf dem folgenden Gipfel im Jahr 2016 in Warschau, bekräftigte das Bündnis den Kurswechsel von Wales und verschärfte ihn. Die Schwarzmeerregion, der Ostseeraum, der Nordatlantik und das Mittelmeer rücken seitdem in den Fokus der Überlegungen transatlantischer Geopolitiker:innen und Militärstrateg:innen. Aufbauend auf dem RAD beschloss das Bündnis in Warschau weitere Massnahmen, um sich gegen Russland in Stellung zu bringen. Es verfolgt dazu erklärtermassen einen „breiten Ansatz“ der sich auf „alle Werkzeuge der NATO“ (NATO 2016) stützt. Die Werkzeuge der NATO reichen von sogenannter strategischer Kommunikation bis hin zu atomaren Erstschlägen. Die NATO-Staaten schreiben in ihrer Gipfel-Erklärung, sie werden „schwerere und high-end Streitkräfte und Fähigkeiten bereitstellen, genauso wie mehr Streitkräfte höherer Bereitschaft“ (ebd.).

Das seit 2014 laufende Manöverprogramm und die forward presence tragen wie vorgesehen zur erhöhten militärischen Handlungsfähigkeit des NATO-Blocks bei. Mit dem damaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroshenko einigte sich die NATO im Zuge des Gipfels 2016 auf ein comprehensive assistance package (Unterstützungspaket) der NATO für die Ukraine – mit dem Ziel, den ukrainischen Sicherheitssektor im Sinne der NATO zu reformieren und auszubauen. Damit integriert das Militärbündnis die ukrainische Armee weiter in die NATO – wohl gemerkt alles ohne offizielle NATO-Mitgliedschaft des Landes.

In der Warschau-Gipfel-Erklärung sprechen die NATO-Staaten unter dem Schlagwort Resilienz erstmals auch von ziviler Bereitschaft. Der Begriff Resilienz stammt ursprünglich aus der Psychologie und meint die Widerstandsfähigkeit eines Individuums gegenüber Krisen. Die NATO überträgt dieses Konzept im Kontext der hybriden Kriegsführung seit 2016 offiziell auf ganze Gesellschaften, macht das Konzept zum Teil seiner militärischen Übungen und verpflichtet seine Mitglieder, ihre „zivile Bereitschaft“ zu erhöhen. Damit weichen sie die Grenze zwischen Krieg und Frieden weiter auf und richten das zivile Leben zunehmend auf Grossmachtkonfrontation und Krieg aus. Die Unterstützung der Armeen durch „zivile Mittel“ ist für die NATO ausdrücklich Teil dieser „zivilen Bereitschaft“ (ebd.). Im Juni 2016 beschliessen die NATO-Verteidigungsminister die Resilienz Richtlinien.

Aus der forward presence wurde zwischen 2016 und 2017 die enhanced forward presence (verstärkte Präsenz nach vorne). Seitdem sind insgesamt vier NATO-Bataillone mit einer „realisierbaren Verstärkungsstrategie“ in Estland, Lettland, Litauen und Polen stationiert. Mit dem nächsten NATO-Gipfel (2018) baute die NATO ihre Bereitschaft und ihre Nachschubtruppen noch einmal weiter aus. Zum einen beschloss das Bündnis, in der BRD ein NATO-Kommando aufzubauen, dass seine „militärische Mobilität“ (NATO 2018) durch Europa Richtung russische Grenze – also seine Fähigkeit, schnell gegen Russland mobil zu machen – verbessern soll. Als Realisierung des 2016 angekündigten Aufbaus von noch mehr Streitkräften in höherer Bereitschaft beschloss die NATO 2018 die Readiness Initiative (Bereitschaftsinitiative). Bis 2020 sollen die Mitgliedsstaaten dem Bündnis insgesamt 30 Bataillone (ca. 30.000 Soldaten), 30 Flugzeugstaffeln und 30 grössere Kampfschiffe in einer Reaktionsfähigkeit von 30 Tagen zu Verfügung stellen.

Nächster Meilenstein der Kriegsvorbereitungen gegen Russland war das Grossmanöver Trident Juncture 2018 in Norwegen. Das zweitgrösste Manöver seit Ende des Kalten Krieges gilt als der erste grosse Probelauf der 2014 ins Leben gerufenen NATO-Speerspitze. Insgesamt zwischen 40.000 und 50.000 Soldaten mit 10.000 Landfahrzeugen aller Art, mehr als 130 Militärflugzeuge und 70 Kriegsschiffe waren beteiligt.

2020 folgte mit Defender-Europe 20 dann gleich das nächste Grossmanöver des NATO-Blocks in Osteuropa mit annähernd 40.000 Soldaten. Dabei probte die USA mit Unterstützung der europäischen NATO-Staaten das Verlegen einer Division, also 20.000 Soldaten, über den Atlantik nach Osteuropa. Es sollte als Testlauf dessen dienen, was die NATO in den sechs Jahren zuvor an militärischer Infrastruktur gegen Russland aufgebaut hatte. Aufgrund der Corona-Krise konnten sie das Manöver allerdings nur in kleinerem Umfang als geplant umsetzen. Räumlicher Schwerpunkt war die Ostseeregion und die transatlantischen Nachschubrouten dahin. Nur ein Jahr später probten die NATO-Staaten mit Defender-Europe 21 dann erneut den Aufmarsch gegen Russland, diesmal mit einem Fokus auf die Schwarzmeerregion und mit rund 30.000 Soldaten.

Auf dem Gipfel 2021 beschlossen die Regierungschefs des NATO-Blocks, im Laufe des kommenden Jahres ein neues strategisches Konzept für das Bündnis zu erarbeiten. Das zurzeit gültige strategische Konzept stammt aus dem Jahr 2010 und ist damit noch Teil der Phase der NATO, die von Militärinterventionen in der islamischen Welt geprägt war. Beim Erstellen der neuen Strategie wollen die NATO-Staaten sich auf das Papier NATO 2030: United for a new Era (NATO 2030: Geeint für eine neue Ära) orientieren. Die NATO macht damit Grossmachtkonfrontation nachhaltig zu ihrem Programm.

Die BRD – Drehscheibe der NATO

Der Kurswechsel zurück zur Grossmachtkonfrontation findet sich in zentralen deutschen sicherheitspolitischen Papieren wieder. Am jenem Papier, dass die NATO ihrer neuen Strategie zugrunde legt, war unter anderem der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière federführend beteiligt (Wagner 2020). Und wie bei der NATO steht dieser Kurswechsel auch in Deutschland nicht nur auf dem Papier. Die Bundesrepublik beteiligt sich tatkräftig an den Kriegsvorbereitungen: Das von der NATO ausdrücklich gelobte Konzept der Rahmennation (führende Nation in multinationalen Missionen) beispielsweise, geht auf eine deutsche Initiative aus dem Jahr 2013 zurück. Und zwar ganz im Sinne der NATO, denn: „eine stärkere europäische Verteidigung wird zu einer stärkeren NATO beitragen“ (2014, Wales Declaration on the Transatlantic Bond). Darüber hinaus ist Deutschland seit 2017 eine der vier Rahmennationen der enhanced forward presence. Deutsche Soldaten sind seitdem permanent in Litauen stationiert und führen dort ein multinationales NATO-Bataillon.

Die BRD steht der NATO auch als eine der sieben Rahmennationen zur Verfügung, die sich die Verantwortung für die Speerspitze teilen. Während ihres grossen Tests, dem Manöver Trident Juncture 2018, stand die Speerspitze unter deutscher Führung. Die Bundeswehr stellte mit 10.000 Soldaten ungefähr ein Viertel der gesamten Manöver-Truppen. Ausserdem nutzte die deutsche Armee den Anlass, um das Verlegen deutscher Panzerverbände über Landesgrenzen und die Ostsee hinweg gleich mit zu trainieren.

Als Teil der NATO-Kommandostruktur-Reform hat Deutschland gleich zwei NATO-Kommandos aufgebaut: Das Baltic Maritime Component Command (BMCC) in Rostock und das Joint Support and Enabling Command (JSEC) in Ulm. Das BMCC ist die Schaltzentrale der NATO für die Ostseeregion, der im Konflikt mit Russland eine militärstrategische Schlüsselrolle zukommt, unter anderem als Zugangsroute der USA nach Europa. Die BRD zementiert damit ihre Rolle als Regionalmacht in einer der Schlüsselregionen im Grossmachtkonflikt der NATO mit Russland. Auch das JSEC, oft Logistikkommando genannt, ist ein sicherheits- und aussenpolitischer Erfolg Deutschlands. Die BRD positioniert sich für den NATO-Aufmarsch gegen Russland gezielt als „strategische Drehscheibe“ (Bundesministerium der Verteidigung 2018) im Herzen Europas. Damit hat sich Deutschlands Rolle im Vergleich zur letzten Blockkonfrontation gewandelt. Damals war Deutschland noch geteilter Frontstaat. Nach drei Jahrzehnten Ostexpansion teilt die Frontlinie zwischen dem NATO-Block und Russland heute unter anderem die Ukraine. Deutschland ist heute „Transitland“, „für die Verlegung von Kräften an die Grenzen des Bündnisgebietes“ (ebd.). Die BRD setzt darauf, diese veränderten geopolitischen Gegebenheiten zu ihrem Nutzen auszuspielen. Das Bundesministerium der Verteidigung sieht gar die „Handlungsfähigkeit des NATO-Bündnisses und der EU“ (ebd.) in Europa in deutscher Hand. Mit dem Aufbau des JSEC ist es ihr gelungen, ihren Anspruch auf die Drehscheiben-Funktion zu untermauern.

In diesem Kontext steht auch der Bundeswehr-Bahn-Deal aus dem Jahr 2019. Das Ministerium der Verteidigung hatte mit Blick auf die deutsche Übernahme der NATO-Speerspitze einen Vertrag mit der Deutschen Bahn abgeschlossen. Die grenzüberschreitende militärische Nutzung des zivilen Bahnnetzes (zwei Mal am Tag in beide Richtungen) liess sich Berlin 100 Millionen Euro kosten (Haydt 2019). Wieder in ihrer Funktion als Drehscheibe unterstützen deutsche Soldaten ihre US-amerikanischen Kamerad:innen während des Grossmanövers Defender-Europe 2020 bei ihrem Aufmarsch gegen Russland. Im Rahmen der Kriegsübung fungierte Deutschland als Host Nation (Gastgeber Nation) für die durchmarschierende US-Armee. Der deutsche Staat stellte den USA für ihre Truppentransporte damals die zivile deutsche Infrastruktur (Häfen, Flughäfen, Strassen und Schienen) zur Verfügung (Bundesregierung 2019).

Den Politikwechsel zurück zur Grossmachtkonfrontation hat die Bundesregierung 2016 in das „Weissbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“, und damit im grundlegenden sicherheitspolitischen Papier der BRD, festgeschrieben. Wie die NATO setzt auch die BRD die Rückkehr zur Grossmachtkonfrontation in systematischen Um- und Aufrüstungsmassnahmen um, grundlegend formuliert 2018 in der Konzeption und dem Fähigkeitsprofil der Bundeswehr. Denn der Krieg gegen die unterdrückten Völker der Welt stellt die Bundeswehr vor andere Herausforderungen als ein Krieg gegen die Atommacht Russland, die über eine eigene Rüstungsindustrie, U-Boote und vieles mehr verfügt. Teil des Programms sind zahlreiche Rüstungsvorhaben, beispielsweise die neuen Korvetten oder die Mehrzweckkampfschiffe. Dabei konzentriert sich das Verteidigungsministerium nach eigenen Angaben darauf, die Bundeswehr für die erneute Übernahme der NATO-Speerspitze im Jahr 2023 fit zu machen.

Um dieses Militarisierungsprojekt durchführen zu können, erhöht die Bundesregierung seit Jahren kontinuierlich den Wehretat. Die Bundeswehr spricht zufrieden von einer erfolgreich umgesetzten Trendwende Finanzen, und das schon 2015, also lange vor Scholz’ 100 Milliarden Kriegskredit. 2022 gipfelte dieses längst begonnene Umrüstungsprogramm für einen Krieg gegen Russland dann in der zweiten historischen Neuausrichtung der Bundeswehr: In Vorbereitung auf einen Krieg gegen Russland organisiert Deutschland seine Armee um. In diesem Kontext steht auch die zunehmend aufkeimende Debatte um das Reaktivieren der Wehrpflicht. Diese war im Zuge der damaligen Orientierung auf militärische Interventionen in der Peripherie ausgesetzt worden. Deutschland sah sich damals in der Rolle, mit Spezialkräften und gut ausgebildeten Berufssoldaten andere Armeen zu „ertüchtigen“, Kriege im deutschen Interesse zu führen. Den Krieg gegen Russland müssten die Deutschen wohl wieder selbst kämpfen.

Deutsches Machtkalkül

Hinter dem Kriegskurs der Bundesrepublik nur die NATO – und damit die USA – zu sehen, greift zu kurz. Deutsche Aussen- und Sicherheitspolitik wird nicht in Washington geschrieben. Wenn das der Fall wäre, hätten die USA nicht mehrere Jahre zu Druck und Sanktionen greifen müssen, in ihrem Versuch Berlin dazu zu bringen, Nord Stream II aufzugeben. Dass Deutschland nach zwei verlorenen Weltkriegen vor allem militärisch von den USA abhängig ist, lässt sich nicht von der Hand weisen. Doch Abhängigkeit und Gehorsam sind zwar verwandt, aber eben nicht dasselbe. Die neu angeschafften Panzer, Kriegsschiffe und die insgesamt gestiegene militärische Bereitschaft der Bundeswehr und in der deutschen Zivilgesellschaft lassen sich auch für andere Projekte nutzen. Die Kommandos in Ulm und Rostock beispielsweise will Deutschland bei Bedarf auch für EU- oder andere Militärmissionen nutzen. Auf der Basis der Vormachtstellung in EU-Europa, dem erneuten Zugriff auf die Ostgebiete durch die Ostexpansion und ein umfassendes Aufrüstungsprogramm, versuchen die deutschen Eliten, endlich die Kapitulation von 1945 abzuschütteln. Strategische Autonomie und Souveränität sind nicht zufällig Schlagworte deutscher Sicherheitspolitik geworden. Es wird höchste Zeit, den deutschen Kriegstreibern auf die Finger zu schauen.

Merle Weber
kritisch-lesen.de