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Überlegungen aus der IL für eine neue Antikriegsbewegung

Wir haben es selbst wiederholt gesagt und hören es jetzt immer häufiger: Es brauche eine »neue Antikriegsbewegung«. Gemeint ist damit eine junge, freche, anziehende, aber vor allem offensive, militante und wirkmächtige Bewegung – meist in Abgrenzung zur traditionellen Friedensbewegung, die teilweise noch in der Logik der Systemauseinandersetzung während des Kalten Kriegs verfangen ist.

Wenn wir von neuer Antikriegsbewegung sprechen, dann stehen wir mittlerweile wieder am Anfang. Wir sind heute konfrontiert mit einer waffenfordernden und kriegstreibenden Bewegung gegen den russischen Krieg in der Ukraine, die quer durch linke Strukturen bis hinein in die IL Anschluss findet, aber global in einer Minderheitenposition ist. Somit ist es unsere Aufgabe, mit der Sammlung aller kritischen und emanzipatorischen Kräfte gegen diesen Bellizismus zu beginnen.

Wir versuchen das innerhalb des Bündnisses »Rheinmetall Entwaffnen«. Gleichzeitig gibt es auch bei uns in der IL keine gemeinsamen Antworten auf zentrale Fragen unserer Zeit: Was tun nach der Pandemie, der Krise des Jahrhunderts? Was haben wir zum russischen Krieg in der Ukraine, der stetigen Eskalation aus NATO-Staaten und zur Militarisierung der EU theoretisch und praktisch zu sagen? Wie kann in einer Zeit, in der Bündnisorientierung und Zusammenarbeit mit anderen großen Akteuren, aber auch die Aktionsform des Zivilen Ungehorsams erschöpft scheinen, ein neuer Bewegungszyklus initiiert werden? Welche Kämpfe erwarten uns in der kommenden Zeit?

Aber eins können wir festhalten: Die IL wurde immer von ihren Projekten getragen. Durch Heiligendamm, Castor Schottern, Blockupy und Ende Gelände hat sie Attraktivität und Mitstreiter*innen gewonnen. Im momentanen Stillstand und der Perspektivlosigkeit fehlen uns Sichtbarkeit und gemeinsame kollektive Erfahrungen. Die IL wurde durch Projekte wahrnehmbar und stark. Durch diese gab es bleibende kollektive Erfahrungen. Derzeit fehlen weitgehend solche gemeinsamen IL-Projekte. Deshalb brauchen wir wieder entsprechende Ideen und einen Aufschwung der Projekte. In diesem Sinn ist dieser Text auch ein Vorschlag mit längerfristiger Perspektive.

Vier Ausgangspunkte

Der Krieg beginnt hier. Hier werden die Waffen herstellt, die weltweit Schaden anrichten und mit denen auch gegen mutmachende und hoffnungsgebende Bewegungen wie in Chiapas oder Rojava vorgegangen wird. Damit diese emanzipatorischen Bewegungen erfolgreich sein können, kämpfen wir hier. Nach wie vor ist das richtig, was Andrea Wolf am 1. Mai 1997 in den Bergen Kurdistans in ihrem Guerilla-Tagebuch festhielt: »Ich würde mir wünschen, dass es in den Metropolen Bewegungen gäbe, die diesen Krieg angreifen, unmöglich machen würden. Einfach den Nachschub kappen. Ich weiß, es ist angesichts des Zustands in den Metropolen utopisch. Auch auf längere Zeit wird es so bleiben. Schade, das wäre was. Eine militante Bewegung, die die Kriegsmaschine lahmlegt.« So stellt sich uns die konkrete Frage, die wir gemeinsam mit anderen Akteuren beispielsweise aus der Klimabewegung praktisch beantworten müssen: Wie können wir heute die zerstörerischen herrschenden Verhältnisse effektiv angreifen und sabotieren?

Schon das Sprechen über eine neue Antikriegsbewegung wirkt etwas geschichtsvergessen. Es vernachlässigt, dass in der Bundesrepublik seit über 50 Jahren neben der einerseits pazifistischen, christlichen und bürgerlichen, andererseits DKP-nahen Friedens-Bewegung eine Antikriegs-Bewegung existiert und dass sich beide anlässlich von Demonstrationen und Aktionen immer wieder auf Vorbereitungstreffen und den Straßen begegnen. Die Antikriegsbewegung bezog sich dabei – anders als maßgebliche Teile der Friedensbewegung – weder positiv auf die DDR noch auf die Sowjetunion, die in den 1980ern Krieg in Afghanistan führte. Erinnert sei an den Moment während des »Rock gegen Rechts«-Festivals 1980 in Frankfurt am Main, als sich ein Kriegsgegner das Bühnenmikrofon ergriff und rief: »Die Russen sind in Afghanistan!« – sehr zum Missfallen der SDAJ.

Die eigentliche Trennungslinie beider Bewegungen war jedoch die Militanz. Der militante Kampf der Antikriegsbewegung zeigte sich in Kriegszeiten und anlässlich von Rekrutengelöbnissen, Staatsbesuchen, Aufrüstungsplänen, Bauprojekten und Gipfeltreffen. Diese wurden genutzt, um Widerspruch gegen imperialistische Kriege auszudrücken oder die NATO und den Militarismus in der Bundesrepublik anzugreifen. Ziel war der Feind im eigenen Land. In der Tradition dieser Antikriegsbewegung sehen wir auch Rheinmetall Entwaffnen.

Auf unserer Suche nach Antworten bezüglich einer neuen Antikriegsbewegung leiteten uns in den vergangenen Jahren innerhalb von Rheinmetall Entwaffnen vier Überlegungen. Der nachfolgende Blick zurück zeigt, was möglich war und ist, wobei im Schatten des aktuellen Krieges vieles auf dem Prüfstand steht und vielleicht grundsätzliche Korrekturen vorgenommen werden müssen. Das wird genauso schwierig wie interessant. Dieser Text kann dafür eine Diskussionsgrundlage sein.

1. Gegen Imperialismus und NATO

Die Demonstrationen gegen den US-amerikanischen Krieg in Vietnam erreichten in der zweiten Hälfte der 1960er in Westdeutschland und Westberlin eine fünfstellige Teilnehmer*innenzahl. Weltweit waren es Millionen. Gleichzeitig entwickelten sich neue Protest- und Widerstandsformen. Der internationale Vietnamkongress 1968 verständigte sich auf zwei inhaltlich sehr treffende Kampagnen: für Desertion von US-Soldaten und »Zerschlagt die Nato«. Daraufhin sind entsprechende politische Praxen entstanden, die sich in den folgenden Jahren weiterentwickelten und radikalisierten: Beispielsweise mit dem Bombenanschlag auf das europäische Hauptquartier der US-Armee im Mai 1972 in Heidelberg, als die dort befindliche Computeranlage getroffen wurde. Mit dieser berechnete die US-Armee den Nachschub für die Flächenbombardierungen in Vietnam, weshalb die Angriffe auf Vietnam kurzzeitig ausgesetzt werden mussten.

Die Kampagne gegen die Nato hat dann in den 1980ern in der Bewegung der Autonomen eine Fortsetzung gefunden, die sich antiimperialistisch verortete, gegen die NATO-Kriegspolitik zielte und damit in die gesellschaftliche, auch angstbesetzte Debatte um die im NATO-Doppelbeschluss Ende 1979 vorgesehene (und Ende 1983 auch vom Bundestag beschlossene) Aufstellung neuer US-Atomraketen in Westeuropa bzw. der Bundesrepublik intervenierte.

Das erste öffentliche Rekrutengelöbnis in der Bundesrepublik, ein militärisches Schauspiel zum 25-jährigen Jubiläum des Beitritts der Bundeswehr zur NATO, im Mai 1980 im Bremer Weserstadion machten einige Hundert Militante unter den über 10.000 Demonstrant*innen zum Desaster: Mehrere Fahrzeuge der Bundeswehr gingen in Flammen auf. Auch die Rekrutenvereidigung im November 1980 in Hannover endete mit Straßenschlachten, in der Innenstadt entstanden Schäden in Millionenhöhe. Als im September 1981 US-Außenminister Alexander Haig nach Westberlin kam, demonstrierten 50.000 Friedensbewegte und mehrere Tausend Autonome. Mobilisiert wurde von autonomen und antiimperialistischen Gruppen. Aus der Demo scherten immer wieder Grüppchen aus und sprühen Parolen an Häuserwände. Gut sichtbar gingen eine US- und eine SU-Fahne, die zusammengeknüpft waren, in Flammen auf. Nach der Abschlusskundgebung, beim Versuch in die Bannmeile vorzudringen, flogen Pflastersteine. Barrikaden wurden gebaut und angezündet.Zum Besuch von Ronald Reagan im Juni 1982 anlässlich des NATO-Gipfels in Bonn gingen Hunderttausende auf die Straßen. Bei beiden Staatsbesuchen hat die entschlossene Militanz der Autonomen weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Die Ereignisse dieser Jahre gehören zu den Höhepunkten der Antikriegsbewegung in Westberlin. Gegen den Besuch des damaligen US-Vizepräsidenten Georg Bush im Juni 1983 in Krefeld demonstrieren etwa 40.000 Friedensbewegte und 1.000 Autonome und Antiimperialist*innen, die aber nicht mehr an die Militanz der Vorjahre anknüpfen konnten.

Die aktionsorientierten autonomen und antiimperialistischen Gruppen haben auch in den folgenden Jahren anlässlich besonderer Ereignisse die Fragen von Krieg und Aufrüstung eingebracht. 20.000 Menschen gingen im Mai 1982 gegen die Militärmesse »International Defense Electronic Exposition« (IDEE) in Hannover auf die Straße. Es gab Aktionen gegen die NATO-Herbstmanöver in den 1980er Jahren und Sabotageaktionen an Sprengschächten, die an Gullydeckel erinnernd in Verkehrsstraßen im Zonenrandgebiet angebracht waren, um im Kriegsfall Straßen zu zerstören. Erwähnung verdient auch das ab 1983 jährlich stattfindende antimilitaristische, feministische Widerstandscamp im Hunsrück. Ebenfalls nennenswerte Proteste und Aktionen gab es 1987 beim Besuch von Ronald Reagan in Westberlin, als 25.000 Menschen, darunter 2.000 Autonome, auf dem Kurfürstendamm gegen das Aufrüstungsprogramm des US-Präsidenten demonstrierten. Gegen Ende flogen Steine und Pyros, Schaufenster wurden entglast, Barrikaden errichtet und Müllcontainer gingen in Flammen auf. An der mehrjährigen Kampagne gegen die Tagung von IWF und Weltbank, die 1988 ebenfalls in Westberlin stattfand, beteiligten sich Autonome, die Friedensbewegung, Dritte-Welt-Gruppen u.a. Es gab einen Anschlag auf den Organisator der Tagung, mehrere hundert direkte Aktionen, einen Gegenkongress und eine von Autonomen organisierte Demonstration mit 9.000 Teilnehmer*innen. Aber auch infolge der Proteste gegen die Startbahn West bei Frankfurt am Main und die Wiederaufarbeitungsanlage im bayerischen Wackersdorf intervenierten sie inhaltlich. Während sich viele Anwohner*innen zunächst ökologischen Themen annahmen und gegen Waldrodung und Fluglärm bzw. gegen die Atomenergie und das absehbare »Gift in unseren Böden« wehrten, thematisierten radikale Linke die Kriegsgefahr, denn die geplanten Bauwerke ermöglichten NATO-Militärflüge bzw. die Entwicklung von Atomwaffen in der Bundesrepublik. Ihre Stärke erreichten die Bewegungen mit ihren Umweltschutz- bzw. Antikriegsinhalten dann aus einer sich gegenseitig unterstützenden und gemeinsamen Praxis.

Auch während der praktischen Anfänge der IL war die Antikriegsfrage ein zentrales Thema: 2007 demonstrierten wir in Rostock in einem schwarzen Block gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm; nach dem militantem Verlauf dieser Demo führten wir einen Aktionstag gegen Krieg, Militarisierung und Folter durch. 2009 beim NATO-Gipfel in Straßburg durften wir miterleben, wie in der Stadt randaliert wurde und ein Zollhäuschen in Flammen aufging. 2011 bei der Kriegskonferenz zu Afghanistan in Bonn wurde ein Redner der grünen Partei gut gezielt von einem Hühnerei getroffen – ein praktischer Anknüpfungspunkt für die Gegenwart.

2. Internationalismus und internationale Solidarität

Trotz allem fehlen uns heute in der radikalen Linken nicht nur praktische, sondern auch manch inhaltliche Bezüge zur 1968er Revolte und deren internationalistischen Analysen. Wenn Freund*innen aus den Roten Gruppen vom Proletariat in hiesigen Fabriken und von Parteiaufbau schwärmen, greift uns das zu kurz. Die Arbeiterklasse im globalen Norden hat ihre Identität, also die Rolle, die Marx dem Proletariat zugeschrieben hat, weitgehend verloren. Denn der hiesige Wohlstand und unsere Privilegien beruhen unter anderem auf Verhältnissen im globalen Süden mit Hungerkrisen usw. Viele Beschäftigte leben hier vergleichsweise gut auf Kosten der weltweiten Ungleichheit und neokolonialen Ausbeutung – und haben deshalb keine Anreize, diese globalen Verhältnisse mit uns zusammen umzuwerfen.

Die lebendige Negation und Anklage der bestehenden Gesellschaft finden wir heute in allen Teilen der Welt bei denjenigen ökonomisch Abhängigen, Ausgebeuteten, Unterdrückten und Gedemütigten, die sich entschieden haben zu kämpfen. Hierzulande sind wir allerdings in der Minderheit, zusammen unter anderem mit Kampfgefährten aus Kleingruppen, die Militärgerät abfackeln, oder mit gleichgesinnten Gruppen und Organisationen, die Kämpfe im globalen Süden unterstützen ohne paternalistisch zu helfen, ohne aus reiner Vernunft oder bloßer Empörung zu handeln, sondern auf einer konkreten Basis eigener Interessen. Das verstehen wir unter internationaler Solidarität. Sie ist ein Geben und Nehmen – wie in der kollektiv genutzten indonesischen Reisscheune namens Lumbung, die während der documenta15 in aller Munde war.

Uns ist die Verbindung, der Austausch und die Koordination wichtig, die Rheinmetall Entwaffnen mit Menschen und Bewegungen pflegt in Chiapas und Mexiko, in Rojava und Kurdistan, in Südeuropa und Großbritannien bis nach Südafrika und Australien. Hier scheint am Horizont auf, was wir anstreben: Voneinander lernen, gegenseitig Inspiration und Unterstützung erhalten, aneinander wachsen, letztlich: zusammen kämpfen.

3. Unteilbarkeit unserer Kämpfe

Rheinmetall Entwaffnen ist ein Vorschlag mit einer Programmatik, bei der sich inhaltliche Verknüpfungen zu anderen Themen wie Ökologie, Feminismus, Antifaschismus oder Flucht und Migration ergeben und in den vergangen Jahren auch zusammenkamen. Es ist ein verbindender Ort ähnlich wie Blockupy, wo sich – von Antikapitalist*innen über Tierrechtler*innen bis zu Gegner*innen von Stuttgart21 – alle versammelten und ein gemeinsames großes Ganzes sahen. Wer die Bedeutung der großen Schnittmenge sieht, durchbricht das politische Nebeneinander und das (in der IL inzwischen etablierte) Denken in voneinander isolierten Themenfeldern. Nur zusammen ist alles zu verstehen und überwindbar.

In diesem Sinn sind wir als Rheinmetall Entwaffnen zusammengekommen auf unserem Bewegungsratschlag »Antimilitarismus neu denken. Für die Zusammenarbeit der Bewegungen von unten« im Juni 2021 in Stuttgart und auf unserer Aktionskonferenz im März 2022 in Kassel. Rheinmetall Entwaffnen ist sicher nicht das alles verbindende Projekt, aber es ist ein Teil davon, ebenso wie Ende Gelände, wo sich die Aktiven ganz ähnliche Gedanken machen. Deshalb finden wir die Überlegung des Rheinmetall-Entwaffnen-Bündnisses gut, statt im Jahr 2023 wieder ein eigenes Camp zu organisieren, temporärer Teil von Ende Gelände zu werden, mit einer eindeutigen Position gegen Krieg und Waffenexporte präsent zu sein und wenn nötig den inhaltlichen Konflikt zu suchen. Denn es ist ein gemeinsamer Kampf.

4. Im Herzen der Bestie

Seit den 1960er Jahren ist viel passiert. Deutschland ist inzwischen ein souveräner Staat und strebt nach Macht und Hegemonie in der EU. So sind auch die 100 Milliarden für die Bundeswehr und der stetig steigende Militärhaushalt zu verstehen. Die Hochrüstung macht weder die BRD »sicherer« vor Russland noch schützt sie vor einem Atomschlag. Aber sie macht Deutschland zur globalen Militärmacht und die EU zu einem starken imperialistischen Projekt neben USA und China.

Die deutsche Rüstungsindustrie ist dabei Instrument der deutschen Regierung, um nach eigenen geopolitischen Interessen (unabhängig von der Außenpolitik anderer Staaten) diejenigen Mächte und Despoten zu fördern, von denen sich die Regierung Vorteile verspricht, um die eigene Position verbessern zu können. So ist es kein Wunder, dass Deutschland und seine Waffenkonzerne sowohl Russland als auch die Ukraine militärisch aufgerüstet haben. Deshalb setzt sich Rheinmetall Entwaffnen gegen Waffenexporte ein.

Unsere bisherigen durch Polizei und Rüstungskonzerne weitgehend geduldeten eintägigen und friedfertigen Blockaden spornen uns an, über mehr nachzudenken. ZU+ (Ziviler Ungehorsam plus), Sabotage und weitere, noch zu findende Formen werden unsere Praxis voranbringen. Aktionen gegen Krieg und Klimakatastrophe haben jede Legitimität. Eine Herausforderung besteht darin, bei der Erfindung des Neuen einen Raum über uns hinaus zu schaffen, damit auch Platz entsteht für andere neben uns, damit Räume geöffnet werden für weitere Aktionen und Formen des Widerstands. Lützerath im Januar 2023 hat gezeigt, dass ausgehandelte Aktionskonsense dafür nicht mehr nötig sind.