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Schweden – Was aus dem Sonderweg zu lernen ist

Staaten sind eine zentrale Quelle von Ausbeutung, Unterdrückung, milliardenfachem Elend, Rassismus und einer nicht endenden Kette von Kriegen. Das gilt auch für Schweden.

Stockholm während der Pandemie, Dezember 2020.

Ich lehne daher jede Form von Staatlichkeit, Nationalismus und Patriotismus ab. Ich erwarte nichts von Staaten, wünsche mir keine „besseren“ Staaten – sondern keine. Im Übrigen ist es bemerkenswert, in welchem Ausmass die Corona-Politik die Staatsgläubigkeit der Linken, zumal der deutschen, ans Licht brachte. Ziel dieses Artikels kann deshalb hier nicht die Politikberatung sein. Doch wurde im deutschsprachigen Raum eine autoritäre Corona-Politik als alternativlos dargestellt, und dies wurde namentlich von Linken ausdrücklich begrüsst und befördert, ohne auch nur einen Blick beispielsweise auf die verheerenden Folgen von Lockdowns zu werfen. Zu jedem Zeitpunkt gab es jedoch Alternativen, wie ich am Beispiel Schweden zeigen möchte. Das macht die grundsätzlichen Zumutungen von Staaten – Herrschaft über die Bevölkerung, Politik im Interesse von Kapital und Eliten, Steuern, Zwangsdienste etc. – nicht weg, liess aber den Menschen etwas mehr Luft zum atmen.

Der „Faktenfuchs“ des Bayerischen Rundfunks (BR) wundert sich über die Reputation, die der schwedische Epidemiologie – im „Faktenfuchs“ fälschlich als Virologe bezeichnet – Anders Tegnell in Schweden geniesst: “Obwohl es in Schweden mehr Tote gab als in den Nachbarländern, wurde er von der Bevölkerung weiter unterstützt“. Abgesehen davon, dass dieser vermeintliche „Faktencheck“ also nicht zu unterscheiden weiss zwischen jenen, die sich mit den Ursachen, Verbreitungen und Folgen von Krankheiten befassen (Epidemiologie) und jenen, die Spezialist:innen für Viren sind (Virologie), abgesehen davon auch, dass die im Artikel zitierte italienische Philosophin Gloria Origgi auch schon mal „Oreggi“ geschrieben wird, abgesehen davon also wird hier unkommentiert und als vermeintlich unumstössliche Tatsache – in einem Text, der sich wohlgemerkt damit beschäftigt, wie man „richtige Experten“ erkennt – von „mehr Toten“ gesprochen.

Weder werden die „Nachbarländer“ konkret benannt, noch werden die schwedischen Zahlen in Relation zur Bevölkerung gesetzt. Deutschland hat – Stand 15.1.2022 – 1.400 Tote pro Million Einwohner, Schweden rund 1.500, das ist also schon mal kein gar so grosser Unterschied. Wenn man dann noch in Rechnung stellt, dass die schwedische Bevölkerung im Schnitt gut anderthalb Jahre älter wird als die deutsche (und übrigens, von wegen Nachbarland, auch z.B. die finnische), was aufgrund der überwiegend für über 80jährige lebensbedrohlichen Pandemie einen bedeutenden Unterschied macht, relativieren sich diese „mehr Toten“ erheblich. Das Durchschnittsalter der in Schweden mit oder an dem Coronavirus verstorbenen Menschen liegt (wie auch in Deutschland) über der durchschnittlichen Lebenserwartung, abgerufen am 16.1.2022). Zwar ist die deutsche Bevölkerung aufgrund von weniger Kindern und Jugendlichen im Durchschnitt letztlich älter als die schwedische, doch spielt das in diesem Zusammenhang keine Rolle. Junge Menschen sterben kaum an der Pandemie, über 80jährige eben schon.

Es geht offenkundig darum, bei jeder Gelegenheit die schwedische Corona-Politik von deutscher Seite aus als unverantwortlich darzustellen. Der “Faktencheck” hätte die Kollateralschäden der strengeren deutschen Politik (z.B. durch wirtschaftliche Unsicherheit und soziale Isolierung) mit in Rechnung stellen können. Er hätte andere Todesursachen in die Betrachtung einbeziehen können (vielleicht gibt es wegen der entspannteren Politik und geringerer Panikstimmung in Schweden weniger Tote bei diversen Todesursachen?). Er hätte darauf hinweisen können, dass die Gesundheitssysteme der Länder auch sehr unterschiedlich sind, so dass da ständig Äpfel mit Birnen verglichen werden. Aber es gibt eben beim BR keinen Faktenfinder zu Schweden. Die einschlägige Seite „correctiv.org“ hat sich zwar ein einziges Mal der schwedischen Corona-Politik angenommen – am 29.10.2020 -, stellt dort die Todesfall-Statistik aber auch nicht in einen entsprechenden Kontext (was dort lustigerweise der Gegenseite vorgehalten wird).

Der BR-„Faktencheck“ steht symptomatisch dafür, die liberalere schwedische Corona-Politik zu delegitimieren. Die „New York Times“ sprach wie andere internationale Medien von einem gefährlichen Sonderweg.

„Der schwedische Weg muss als gescheitert gelten“, verkündete im Mai 2020 programmatisch der deutsche Damals-noch-nicht-Gesundheitsminister Karl Lauterbach via Facebook, und die deutschen „Leitmedien“ schrieben eifrig mit und wiederholten diese Aussage in jeder Ausgabe, übertrafen sich gar gegenseitig in weiteren Zuspitzungen. Von einem „Leidensweg“ sprach der „Tagesspiegel“ noch am 19.5.2021, nachdem die schwedische Sterbequote proportional bereits seit Monaten unter dem deutschen Niveau lag. „Schweden ist auf dem Weg in eine dunkle Zukunft“, titelte die „F.A.Z.“ – allerdings aus dem Zusammenhang gerissen, denn Schwedens Ministerpräsident hatte von der Ausbreitung des Virus in Teilen der Welt gesprochen, und dabei eben auch von Schweden.

Mehr als jemals zuvor wurde während der Corona-Pandemie gerade seitens der „Leitmedien“ immer wieder dazu aufgefordert, Fakten von Fake News zu trennen. Das ist nicht immer einfach. So meldet die „tagesschau“ am 18.12.2020, bezugnehmend auf eine dpa-Meldung: „In Schweden sind im vergangenen Monat sogar so viele Menschen gestorben wie in keinem November der letzten 100 Jahre“, abgerufen am 16.1.2022). Oha. Da könnte man allerdings darauf hinweisen, dass sich die Bevölkerung seither verdoppelte und zudem die seither deutlich gestiegene durchschnittliche Lebenserwartung auch an gewisse biologische Grenzen stösst. So ist es auch kein Wunder, dass die statistische Lebenserwartung in Schweden – und nicht nur dort – im Zuge der Pandemie sinkt: eben weil viele Alte sterben. Ein statistischer Effekt, den ich noch in keinem „Faktencheck“ erläutert gesehen habe. Stattdessen der reisserische Aufmacher im „Spiegel“ vom 27.9.2021: „Corona drückt Lebenserwartung ähnlich wie Zweiter Weltkrieg“. Bloss, dass dies eben nichts aussagt, da damals vor allem die Jüngeren starben.

Bis zum 1.12.2021 (seither wurden auch in Schweden verschiedene 1G- und 2G-Regeln umgesetzt, bei einigen Events muss nun der Impfpass gezeigt werden) stand Schweden zwar nicht für eine grundlegend andere Politik – auch die schwedische Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren neoliberal umgebaut worden, zentrale Säulen des einstigen Wohlfahrtsstaates wurden demontiert, das Gesundheitswesen ökonomisiert -, wohl aber für ein anderes Verständnis von Gesellschaft: in Schweden setzte man auf Vernunft, Vertrauen, Überzeugen, Eigenverantwortung, Verantwortung aber nicht zuletzt auch für Andere. Schweden verzichtete auf mit Geldstrafen sanktionierte Vorschriften. So „sollten“ Ungeimpfte grössere Menschenansammlungen meiden, wer Krankheitssymptome zeigt, „sollte“ zu Hause bleiben und sich testen lassen, zu Stosszeiten „sollte“ man in Bussen eine Maske tragen.

Explizit sorgte Tegnell insbesondere in Deutschland mit seinen Äusserungen zur Maskenpflicht für Widerspruch:

„Das Resultat, das man durch die Masken erzeugen konnte, ist erstaunlich schwach, obwohl so viele Menschen sie weltweit tragen. Es überrascht mich, dass wir nicht mehr oder bessere Studien darüber haben, welche Effekte die Masken tatsächlich herbeiführen. Länder wie Spanien oder Belgien haben ihre Bevölkerung Masken tragen lassen – trotzdem gingen die Infektionszahlen hoch. Zu glauben, dass Masken unser Problem lösen können, ist jedenfalls sehr gefährlich“.

Das bedeutet nicht, das es keine Einschränkungen gab, doch wurden diese stets als letztes Mittel betrachtet, und sie machten sich wenig im Alltag bemerkbar. Verschärfung auf Schwedisch, das heisst: verschärfte Empfehlungen. Einen Lockdown gab es nie, auch keine verbreitete Maskenpflicht. Kitas, Geschäfte, Restaurants, Cafés, Fitness-Studios, Campingplätze, Hotels, Skigebiete blieben geöffnet, ebenso die Schulen bis zur 9. Klasse. Temporär gab es lediglich eine Obergrenze für öffentliche Versammlungen und Veranstaltungen. Ein Erfolgsrezept der schwedischen Politik scheint die Kontinuität zu sein. Zwar verabschiedete man Anfang 2021 in Schweden vorsorglich ein (im Land übrigens sehr umstrittenes!) Pandemiegesetz, das dem Staat weitreichendere Eingriffe potentiell ermöglicht, allerdings beispielsweise auch weiterhin keine Ausgangssperren. Jedoch: der hektische deutsche Aktionismus – jede Woche, in jedem Bundesland, neue, umfassendere, oft auch widersprüchliche Massnahmen – ist in Schweden nicht zu sehen. In Schweden scheint man begriffen zu haben, dass wilder Aktionismus das Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung vermittelt – das Falscheste, was man in Krisenzeiten tun kann.

“Wir haben nie daran geglaubt, dass dieses ständige Öffnen und Schliessen der Gesellschaft funktioniert. Uns war klar, dass das zu viele negative Effekte mit sich bringt“ (Zitat

Auch in Schweden gab es kontroverse Diskussionen, gipfelnd in einer staatlichen Untersuchungskommission samt durchaus kritischem Abschlussbericht (https://www.regeringen.se/4af379/contentassets/a8e708fff5e84279bf11adbd0f78fcc1/sou_2020_80_aldreomsorgen-under-pandemin.pdf, abgerufen am 16.1.2022). Eine dubiose Social-Media-Kampagne wurde ins Leben gerufen (die „Watchdogs“ wollten die schwedische Politik in die Knie zwingen, indem sie den schwedischen Weg international zu diskreditieren versuchten), sehr vereinzelt fanden Demonstrationen gegen die – vergleichsweise sanften – Beschränkungen statt.

Insbesondere in Phasen mit im internationalen Vergleich relativ hohen Todeszahlen gab es andererseits Verunsicherungen und Rufe nach härteren Massnahmen. „Länder mit zwangsweisen Beschränkungen haben es besser gemacht als wir“, so der schwedische Ökonom Lars Calmfors im August 2021. Autoritätsfans gibt es eben überall – in Schweden sind das vor allem die in der Opposition befindlichen Rechtspopulist:innen. Insgesamt aber war der öffentliche schwedische Diskurs unaufgeregter, von Panikerzeugung keine Spur. Gerade letzteres ist nicht zu unterschätzen, ist doch allgemein bekannt, dass Angst das Immunsystem schädigt: Angst vor Krankheit macht krank.

Immer wieder wurde in der deutschen Berichterstattung betont, dass der schwedische Sonderweg zahlreiche zusätzliche Tote bedeutet. Eine sorgfältige statistische Auswertung spricht eine andere Sprache. Im Vergleich etwa zum Nachbarland Norwegen, dass im Pandemiejahr 2020 eine niedrigere Mortalität hatte als in den Vorjahren, ist die schwedische Mortalität 2020 zwar etwas gestiegen, was aber auch mit einer in den Vorjahren ungewöhnlich niedrigen Mortalität begründet wird, abgerufen am 16.1.2022). So hatte Schweden 2019 im Gegensatz zu Finnland oder Norwegen keine starke und gerade für ältere Menschen vielfach tödliche Grippewelle, für 2020 gibt es also – so makaber das klingt – einen gewissen Nachholeffekt. Der Tod lässt sich nicht für unbestimmte Zeit aufschieben. Betrachtet man nicht die Mortalitätsquote, sondern die Zahlen der Verstorbenen pro 100.000 Menschen, so bewegt sich das Jahr 2020 in Schweden im langjährigen Mittel, 2021 liegt sogar darunter.

Zwar hatte Schweden in der ersten Corona-Welle 2020 im Vergleich mehr Corona-Tote als beispielsweise Deutschland (was allerdings, siehe oben, unter Umständen durch andere Sterblichkeitsfaktoren relativiert wird). Der Schutz speziell der älteren Menschen, erklärtes Ziel seit Beginn des Jahres 2020, gelang in Deutschland (mit Lockdown) wie Schweden (ohne Lockdown) nicht. Dabei muss man, wenn schon ständige Länder miteinander verglichen werden, auch sagen, dass Schweden mit der Anfang 2020 europaweit pro Kopf geringsten Anzahl von Notfall – und Intensivpflegebetten sowie prekären Arbeitsbedingungen (so dass z.B. viele Pflegekräfte bei Krankheit nicht einfach zuhause bleiben können) und mangelnder medizinischer Schutz- und Notfallausrüstung im privatisierten Gesundheits- und Altenpflegesystem denkbar schlecht auf die Pandemie vorbereitet war.

Schon 2003 klagten Patient:innen „über verstopfte Notaufnahmen, Bettenmangel und monatelanges Warten auf Fachärzte“ (Deutschlandfunk, 3.9.2003). Doch auch jenseits dieser strukturellen Defizite musste Anders Tegnell, der im Herbst 2020 noch meinte, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben (Badische Zeitung, 23.10.2020), eingestehen, die zweite Corona-Welle unterschätzt zu haben. Dabei muss man erwähnen, dass die schwedische „Übersterblichkeit“ – die in diesen Zahlen allerdings eine generell steigende und auch älter werdende Bevölkerung nicht berücksichtigt – auch 2020 geringer war als diejenige von Österreich, den Niederlanden, Grossbritannien oder Belgien und auf einem Niveau lag mit Frankreich und Italien (Weser-Kurier, 3.2.2021), allesamt Länder mit harten Lockdowns und unzähligen Opfern von „Kollateralschäden“ wie zunehmender häuslicher Gewalt, starken sozialen Abstiegsängsten, psychischer Verzweiflung, steigendem Alkoholkonsum.

„Aber das Experiment war noch nicht zu Ende. Im folgenden Jahr verwüstete das Virus weiterhin die Welt, und nach und nach überstieg die Zahl der Todesopfer in Ländern, die abgeriegelt waren, die Schwedens. Grossbritannien, die USA, Frankreich, Polen, Portugal, die Tschechische Republik, Ungarn, Spanien, Argentinien, Belgien – Länder, die auf verschiedene Weise Spielplätze schlossen, ihre Kinder gezwungen hatten, Gesichtsmasken zu tragen, Schulen schlossen, Bürger mit Geldstrafen belegten, weil sie am Strand herumhingen und Parks mit Drohnen überwachten– wurden alle schlimmer getroffen als Schweden. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels haben mehr als 50 Länder eine höhere Sterblichkeitsrate“, so der Journalist Johan Anderberg im November 2021. Anderberg jedenfalls zieht ein positives Fazit des „Schweden-Experimentes“.

In der dritten Welle, im Winter 2020/ 2021, drehte sich das Blatt. Tatsächlich hatte Schweden Ende Januar 2021 im 7-Tages-Durchschnitt 15 Corona-Tote, Deutschland dagegen 719 – Deutschland hatte also 47mal mehr Corona-Tote, bei einer lediglich gut achtmal so grossen Bevölkerung. Mit der vierten Welle hat sich die Entwicklung komplett umgekehrt. Schweden hat kaum Tote zu beklagen, die Intensivstationen bleiben leer.

Letztlich erwies sich die weitsichtige, kontinuierliche und „softere“ schwedische Corona-Politik als angemessen und richtig. “Wir haben von Anfang an gesagt: Das hier wird ein Marathon und kein Sprint“. Das bewahrheitet sich mit jeder neuen Pandemie-Welle. Anders Tegnell zeiget sich denn auch mit Blick auf Omikron zuversichtlich, keine neuen Massnahmen und Regeln veranlassen zu müssen: „Ob sich die Variante sehr von vorherigen unterscheidet und ob wir etwas anders machen müssen als jetzt, muss man abwarten. Aber unsere Pläne tragen der Möglichkeit Rechnung, dass Varianten auftauchen. Das ändert unsere Bewertung und Vorhersage nicht besonders“.

Fest steht: ginge es nach den deutschen, mantrahaft heruntergebeteten Paradigmen der Corona-Politik, so müssten die Schweden eigentlich inzwischen ausgestorben sein. Wie machen die das also?

Das Gesundheitswesen, speziell die Versorgung der Alten, ist in Schweden in keinem besseren Zustand, eher im Gegenteil.

An der Impfquote liegt der schwedische Erfolg einer langfristigen, ressourcenschonenden Pandemiebekämpfung nicht: diese ist dem deutschen Niveau ähnlich, ist allerdings in Schweden bei den besonders vulnerablen über 80jährigen höher, bei den Jüngeren hingegen niedriger. Epidemiologe Anders Tegnell setzte von Beginn an zwar wie Deutschland auf das Impfen, die schwedische Politik hat aber bislang auf Drohgebärden verzichtet und wohl auch deshalb keine so massiven Abwehrreaktionen wie in Deutschland provoziert. Zur Impfbereitschaft hat sicher auch das grosse Staatsvertrauen in Schweden beigetragen.

Damit wären wir – bei aller Vorsicht gegenüber Pauschalisierungen – bei der „Mentalitätsfrage“. Zwar mögen es viele Menschen in Schweden sicher gemütlich – hyggelig, wie es beim Nachbarn Dänemark heisst. Dass die Menschen aber weniger gesellig wären (was bisweilen für die Machbarkeit des schwedischen Sonderweges unterstellt wird), ist ein Mythos, ebenso die Mär von der dünnen Besiedlungsdichte. Denn die Verstädterung in Schweden ist höher als in Deutschland (88 zu 77%). Allein in den 3 grössten Städten lebt mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung – auf deutsche Verhältnisse übertragen müssten in Berlin, Hamburg und München zusammen knapp 25 Millionen Menschen leben. Die 12% Bevölkerung ausserhalb der Städte leben allerdings sehr verstreut.

Die Menschen in Schweden sind auch nicht dem Konsum abhold. Sie trinken im Schnitt zwar weniger Alkohol, feiern aber auch gern. Sie reisen überdies gern, sehr gern sogar. Mehr als die vermeintlichen deutschen „Reiseweltmeister“. So waren mehr Menschen aus Schweden als aus Norwegen oder Finnland (die noch vor Schweden die „Reiseweltmeister“-Titel verdienen) im Winter 2019/ 2020 zum Skisport in den alpinen Corona-Hotspots gefahren. Gleichzeitig hat Schweden deutlich mehr Übernachtungsgäste aus dem Ausland als Norwegen oder Finnland. Zudem ist die innerstaatliche Mobilität grösser– alles Faktoren, die hinsichtlich Infektionsdynamik eher nachteilig sind und den umstandslosen Vergleich mit den Nachbarstaaten erschweren, wenn nicht verunmöglichen.

Auch Schweden ist nicht völlig befreit von Esoteriker:innen und Anthroposoph:innen, die in Deutschland für hohe Inzidenzen verantwortlich gemacht werden. Alternativmedizin und biodynamische Ernährung sind beispielsweise Alltag im kleinen Järna, in dem gut 2.000 der 2.900 örtlichen Arbeitsplätze in anthroposophischen Unternehmen angesiedelt sind – der dortige Anthro-Hotspot wird allerdings von vielen Zugewanderten aus Deutschland und der Schweiz dominiert. Mir ist keine vergleichende Studie bekannt – doch vielleicht ist ein Grossteil der schwedischen Bevölkerung weniger anfällig für Verschwörungsdenken und Naturmystifizierungen?

Zu wenig beachtet sind zumindest in Deutschland während der gesamten Pandemie die sozialpsychologischen Faktoren. Vielleicht hat man in Schweden die Nachbar:innen nicht von einem Tag auf den anderen als vermeintliche Todesbot:innen betrachtet, vor denen es hektisch die Strassenseite zu wechseln gilt. Vielleicht konnte man im Vergleich zu Deutschland eigenverantwortlicher agieren, weil man sich nicht von lauter Verboten erdrückt fühlte. Vielleicht hat man sich sicher gefühlt, weil nicht ständig neue, verwirrende Massnahmenkataloge viele Menschen überforderten und fragwürdigen Faktenchecks sowie irrationalen Stimmungen den Weg bereiteten. Wie viele Lebensjahre mag der Umstand gerettet haben, dass die Menschen nicht systematisch über bald zwei lange Jahre in den Panikmodus versetzt wurden? Panik nutzt sich im Übrigen ab und führt zu Resignation, Trotz und Gegenwehr.

Was bleibt also vom schwedischen „Sonderweg“?

Zunächst einmal ist er nicht gar nicht so besonders, wie Anders Tegnell selbst immer wieder betont, nicht nur hinsichtlich von Impfprogrammen. Abstand, Hygiene und eine Reduzierung sozialer Kontakte sind auch in Schweden von Beginn an zentrale Gebote. Der schwedische Weg zeigt sich ansonsten vor allem darin, dass der Staat der Bevölkerung nicht sämtliche Entscheidungskompetenzen nimmt, dass auf Augenhöhe kommuniziert wird, dass es mehr Empfehlungen gibt, auch nachdrückliche Empfehlungen, man aber soweit wie möglich versucht, Verbote ebenso zu umgehen wie die Erzeugung von Panik. Der schwedische Ansatz ist deutlich „ganzheitlicher“, er guckt nicht nur auf Inzidenzwerte, sondern „beispielsweise auf die Selbstmordrate oder auch auf die Folgen, wenn schwer kranke Menschen wegen eines Lockdowns nicht zum Arzt gehen. Für viele ist es zudem gesundheitlich schädlich, unfreiwillig isoliert zu werden“, so Anders Tegnell.

Das gelassenere öffentliche Klima hat der Bevölkerung viele Zumutungen erspart. Das ist, unter den gegenwärtigen Verhältnissen, schon eine Menge. Die schwedische Corona-Politik hat nicht so stark polarisiert, ein grösserer Teil der Bevölkerung fühlte sich wahrgenommen und wurde „mitgenommen“. Die Akzeptanz der (wenigen und kontinuierlicheren) Massnahmen scheint grösser. Schweden hat die enormen Kollateralschäden von Lockdowns vermeiden können, wenngleich das Land, wie der Rest der Erde, unter den wirtschaftlichen Folgen des Virus ächzt. Kein Land ist eben eine Insel im Meer der globalisierten Ökonomie.

Das gilt auch für das unter die Maxime der Gewinnoptimierung gestellte schwedische Gesundheitswesen. Privatisierung wirkt mit Sicherheit – und zwar tödlich. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen wurde das Gesundheitssystem zwar nicht überlastet, allerdings sind tausende Tote in privatisierten Altenheimen ein hoher Preis.

Angesichts unweigerlich kommender Pandemien kann nur ein konsequent dem Gemeinwohl verpflichtetes Gesundheitssystem für nachhaltige Krisenfestigkeit sorgen. Systemische Widerstandsfähigkeit bekommt man nicht durch Impfen, sondern durch eine Abkehr vom ökonomisierten Gesundheitswesen. Die traditionell starke Rolle der Gewerkschaften in Schweden und der Linksruck der letzten Jahre im Land kann, in Verbindung mit den Lehren aus der Pandemie, zu einer Rückbesinnung auf das schwedische Wohlfahrtsmodell führen. In der syndikalistischen Gewerkschaft SAC spielte das Gesundheitswesen entsprechend schon länger eine grössere Rolle bei der Organisierung.

Fazit

Schweden ist kein Wunderland, kein Grund, schwedische Fahnen zu schwingen (wie es die Rechten in Deutschland kurioserweise tun). Dennoch: der schwedische „Sonderweg“ in der Pandemie verdient es unter dem Strich, als Beispiel dargestellt zu werden, nicht als Prügelknabe. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis man dies in einigen der reichweitenstärkeren deutschen Medien zu lesen bekommen wird. Die „New York Times“ hingegen hat die Lektion gelernt. Bereits im September 2021 hat man den schwedischen „Sonderweg“ zum Modell erhoben.

erschienen im Untergrundblättle von Gerald Grüneklee