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WIR SIND DIE UNBEQUEMEN JÜD*INNEN

Über ein Jahr lang hatten die beiden die Konferenz vorbereitet, sie, die aus Südafrika stammende, in Berlin lebende Künstlerin Candice Breitz, und er, der US-amerikanische Holocaustforscher Michael Rothberg [https://www.zeit.de/kultur/2021-03/michael- rothberg-multidirektionale-erinnerung-buch-holocaust-rassismus-kolonialismus]. We Still Need to Talk lautet der Titel, das Thema: deutsche Erinnerungskultur, Antisemitismus, Islamophobie und Rassismus. Anfang Dezember sollte die Konferenz im Berliner Futurium stattfinden, das Budget sollte die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) bereitstellen. Es gab Zusagen von dem deutsch-israelischen Philosophen Omri Boehm, dem israelischen Soziologen Natan Sznaider und der KZ-Gedenkstätten-Leiterin Elke Gryglewski, von vielen Kolonialismus-Historikerinnen und Kuratoren – insgesamt rund vierzig Teilnehmern.

Jetzt hat die BpB die Tagung abgesagt. Ein höchst ungewöhnlicher und begründungsbedürftiger Vorgang. Man sehe sich in der derzeitigen Situation nicht in der Lage, "diese Debatte konstruktiv zu führen und zu moderieren, um das angestrebte Bildungsziel in einer sachlichen und respektvollen Weise zu erreichen", heißt es in einer kurzen Stellungnahme auf der Internetseite des Instituts. Angehängt ist noch ein Satz, in dem sich die Bundeszentrale von Teilnehmenden distanziert, "die sich hier nicht klar gegen den Terror der Hamas positionieren". Wer damit gemeint ist, wird nicht weiter erläutert.

Das Canceln der Tagung sei gegen ihren Willen erfolgt, sagen Michael Rothberg und Candice Breitz der ZEIT. Auch die E-Mail, die der Präsident der BpB, Thomas Krüger, an die Teilnehmer des Symposiums verschickte, sei nicht mit ihnen abgestimmt gewesen. "Wir gehen davon aus, dass die Entscheidung von Thomas Krüger getroffen wurde. Da er jedoch nicht auf unsere Bitte, direkt mit ihm zu sprechen, reagiert hat, können wir nicht mit Sicherheit sagen, was die unmittelbaren Gründe für die Absage waren", so Rothberg.

Die Situation sei pervers, sagt Candice Breitz. Nach den Terroranschlägen der Hamas noch mehr als zuvor. Sie und viele andere progressive oder linke Jüdinnen und Israelis würden ausgerechnet in Deutschland ausgegrenzt. "Manche deutsche Nazi-Enkel bezeichnen linke Juden sogar als Antisemiten, unterstellen uns schnell eine Nähe zur Hamas", sagt Breitz. "Man will uns in Deutschland lieber nicht hören. Wir sind die unbequemen Juden."

Inzwischen habe sie das Gefühl, mit dem Kopf gegen eine Wand aus Beton zu rennen. Es gibt nämlich noch eine Vorgeschichte zu der Absage: Die Planungen zu dieser Konferenz dauern schon fast zwei Jahre. Ursprünglich sollte We Still Need to Talk in der Akademie der Künste in Berlin stattfinden – auch als eine Fortsetzung der Debatte um Antisemitismus auf der Documenta 15. Die Akademie sagte die Planungen zur Konferenz vor einem knappen Jahr ab, der Zeitpunkt sei nicht der richtige für das Thema. Die BpB sprang schließlich als Partner ein.

Michael Rothberg glaubt nicht, dass die Absage mit dem Zeitpunkt der Tagung zusammenhängt. Er sieht die tieferen Gründe in der Art, wie die Deutschen mit ihrer Geschichte umgehen: "Aus einer selbstkritischen Erinnerungskultur ist inzwischen eine selbstgerechte geworden, in der eine parteiische Definition von Antisemitismus dafür missbraucht wird, eine kritische Diskussion über Israel zu unterbinden und sogenannte muslimische Einwanderer als an sich antisemitisch zu bezeichnen." Das gute Deutschland, so
sieht es Rothberg, versuche sich von seiner eigenen Schuld zu entlasten, indem es mit dem Finger auf den Antisemitismus von Muslimen zeige.

Ein geladener Kurator

Thomas Krüger von der BpB beurteilt die Lage anders. Er hält die Anschuldigungen von Breitz und Rothberg für absurd: "Die Behauptung, wir würden kritische Diskurse unterdrücken, ist haltlos und bar jeder Grundlage", sagt Krüger der ZEIT. Erst im Sommer habe man ein Symposium in Hamburg zum "umkämpften Erinnern" maßgeblich gefördert, dort ging es darum, wie sich das Gedenken an den Holocaust und die Erinnerung an den Kolonialismus zueinander verhalten. Auch von Rothberg selbst sei ein Buch in der Schriftenreihe der BpB erschienen. "Unsere Aufgabe ist nicht, in Kontroversen einseitige Positionen zu beziehen, sondern die Debatten eben zu versachlichen und die verschiedenen Perspektiven und Positionierungen sichtbar zu machen. Die BpB ist doch keine Agitprop-Behörde oder gar ein Wahrheitsministerium", sagt Krüger. Auch die Entscheidung, die Tagung abzusagen, sei "gemeinsam proaktiv" gefallen. Gemeint sind damit aber offenbar nicht die Initiatoren Breitz und Rothberg. Einen direkten Kontakt von Krüger zu Breitz und Rothberg hat es zum Zeitpunkt der Absage nicht gegeben.

Vielleicht lässt sich die gegenwärtige Aufregung und die überraschend abrupte Absage der BpB besser verstehen, wenn man weiß, wie sehr in den vergangenen Jahren bereits um die deutsche Erinnerungskultur gestritten wurde, vor allem seitdem der sogenannte Globale Süden ein neues Licht auf die deutsche Erinnerungspolitik des Holocausts geworfen hat. Michael Rothberg selbst wirbt schon seit Jahren mit seinem Konzept der multidirektionalen Erinnerung dafür, dass sich das Gedenken auf die wechselseitige Verflechtung zwischen Sklaverei und Holocaust, Kolonialismus und Antisemitismus ausdehnt. Ein Relationismus, der gerade in Deutschland, wo der Holocaust für viele als etwas Singuläres gilt, auf Kritik stößt.

Und tatsächlich war dann auf der Documenta 15 [https://www.zeit.de/kultur/2022-09/documenta-fifteen-antisemitismus- expertenkommission-kassel-10nach8] jener Fall eingetreten, den viele Beobachter bereits im Vorfeld vorausgesehen hatten: Das indonesische Kollektiv Taring Padi installierte ein Banner mit eindeutig antisemitischen Bildelementen. Und auf einmal stand die Frage im Raum, wer hier eigentlich selektiv erinnert: die Deutschen, die das Existenzrecht Israels zur Staatsräson erklären und damit aber angeblich den Kampf gegen den heimischen, rechten Antisemitismus verhindern? Oder doch postkoloniale Kunstkollektive, die für das Ungeheuerliche der Shoah kein angemessenes Verständnis zu haben scheinen?

Auch im Vorfeld der Konferenz in Berlin kam es zu einem Konflikt, der deutlich macht, wie sehr der jüngste Nahostkrieg die ohnehin polarisierte Debatte verschärft. Ein geladener Kurator, Edwin Nasr, der aus dem Libanon stammt, hatte direkt am Morgen nach den Terroranschlägen der Hamas ein Foto von fliehenden israelischen Ravern mit der Aufschrift "Poetic Justice" auf Instagram gepostet. Es habe sich um einen Repost gehandelt, schrieb der Kurator später, er habe nicht geahnt, dass es sich bei dem Angriff auf das Festival Supernova um ein Massaker handelte und Hunderte Zivilisten attackiert wurden. Seinen Post habe er noch am selben Tag gelöscht – und bereue ihn. Ist dieser Kurator gemeint, wenn die BpB von Teilnehmenden spricht, die sich nicht klar gegen den Terror der Hamas positionieren?

Soll man wegen solch eines Vorfalls ein Symposium canceln?

"Einzelne Äußerungen und Posts von vorgesehenen Teilnehmenden waren für uns ein absolutes No-Go", sagt Krüger. Auch er erwähnt den Fall Nasr. Der Kurator hatte sich allerdings schon mehrere Tage vor der Absage der Konferenz aus dem Teilnehmerfeld verabschiedet, sagt Candice Breitz. Im Laufe der Planungen, so hört man, wurden sogar in Absprache mit den Mitarbeiterinnen der BpB zusätzliche Redner angefragt, um das Feld der vertretenen Positionen diverser zu gestalten. Soll man also wegen solch eines Vorfalls gleich ein Symposium canceln?

Ursprünglich sollte We Still Need to Talk eine Fortsetzung der Debatte um die Documenta und den neuen Historikerstreit sein. Doch tatsächlich haben die Fragen jetzt mit dem Krieg zwischen Israel und der Hamas noch einmal eine neue Dringlichkeit gewonnen. Die Philosophin Susan Neiman sprach erst jüngst in einem Essay in der New York Review von einem "philosemitischen McCarthyismus", mit dem nun – mit derselben Vehemenz, mit der US-Präsident Joseph McCarthy in den Fünfzigerjahren kommunistische Umtriebe in den USA verfolgte – jüdische Schriftsteller, Künstlerinnen und Aktivisten von nichtjüdischen Deutschen öffentlich des Antisemitismus bezichtigt werden, weil sie sich zum Beispiel solidarisch mit den Palästinensern erklären.

In dieser aufgeheizten Debattenlage hätte die Konferenz ein Ventil sein können. Gerade jetzt wäre es an der Zeit, über rechten, linken und muslimischen Antisemitismus zu sprechen, um den Begriff des Antisemitismus selbst nicht zu einer Phrase werden zu lassen, mit der man nach Belieben um sich werfen kann. Die BpB nimmt mit ihrer Absage nicht Druck aus der Diskussion, sie erhöht nur den Einsatz. Sie verhärtet die Fronten.

Candice Breitz sucht weiterhin die Auseinandersetzung. Zusammen mit einigen Mitstreiterinnen hat sie für diesen Freitagnachmittag eine Demonstration angemeldet, auf dem Pariser Platz, direkt vor dem Brandenburger Tor und der Akademie der Künste. Der Protest richte sich, sagt sie, gegen die Erosion der deutschen Öffentlichkeit: "We still still still still need to talk."